Der Architekt
tatsächlich nicht am Tatort gewesen war. Erst hatte er gehofft, Lillian würde ihm ein Alibi geben, als er schließlich doch eines brauchte. Und als sich das zerschlagen hatte, hatte er Glück. Sophie hatte es Ben vorhin gesagt: Götz war auf Überwachungsvideos zu sehen, die belegten, dass er sich zur Tatzeit am anderen Ende der Stadt aufgehalten hatte. Während sich in seinem Haus die Tragödie vollzog.
Ben rollte sich auf dem Bett zusammen. Es war nicht wirklich kalt, die Daunendecke war sauber und dick, und doch fröstelte ihn. Wahrscheinlich lag es an den Brandwunden. Sein Kopf fühlte sich heiß an, aber der Schweiß, der seinen Körper bedeckte, war kalt und feucht.
Und jetzt? Wenn Götz so weit gegangen war, die Existenz der Kammer auch dann noch zu verschweigen, als er wegen Totschlags angeklagt wurde, wie weit würde er noch gehen, um zu verheimlichen, dass es sie gab? Jetzt, wo er, Ben, sich darin befand und zu einem Zeugen geworden war, der das Geheimnis kannte? Das Geheimnis, das Götz um jeden Preis wahren wollte!
Bens Blick wanderte durch den kleinen Raum, über den Spiegel, das mit einem Blumenmuster verzierte Bettzeug, das Tischchen in der Ecke. Dies war nicht die Zelle eines Mannes, es war das Zimmer einer Frau. Warum war sie hier gewesen? Warum durfte niemand von ihr wissen?
Und plötzlich sah er klar. Sie würden ihn töten. Sie würden hereinkommen, wenn er schlief, ihn töten, ersticken vielleicht oder erstechen. Am besten so, dass es aussah, als hätte er es selbst getan. Seine Leiche würden sie irgendwohin werfen. Zusammen mit dem blutigen T-Shirt des Mädchens, das sich noch immer in der Tasche seines Mantels befinden musste, den er abgelegt hatte, als er zu Sophie in das Haus geflüchtet war. Gesucht wurde er bereits. Wenn man seine Leiche mit dem Beweisstück fand, würde der Fall endlich gelöst erscheinen. Und Götz sein Geheimnis niemals preisgeben müssen.
85
Es war bereits dunkel, als Mia auf die Straße hinaustrat. Über ihr rauschten die Kronen der Bäume. Sie hob den Blick. Wie riesige Wesen aus Urzeiten zeichneten sich die Pflanzen vor dem nachtblauen Himmel ab.
Sie eilte weiter. Die Straße war kaum befahren. Wenn ein Wagen an ihr vorbeirollte, spiegelten sich die Lichter im Asphalt. Es musste geregnet haben.
Die Schuhe, die sie in der Eile übergestülpt hatte, waren ihr etwas zu klein. Die Absätze störten sie beim Laufen. Sie hatte in der Hast keine anderen gefunden. Shirt, Hosen und Unterwäsche, die auf einem Stuhl im Schlafzimmer lagen, hatte sie hektisch über das Nachthemd gestreift. Kleidung der Frau, die sie getötet hatte.
Ihr Fuß knickte um, der Schmerz peitschte sie vorwärts. Sie war frei. Unfassbar. Sie hatte es geschafft, der Kammer zu entkommen – und war zur Mörderin geworden. Keine wirkliche Befreiung, sondern ein Sturz in eine noch viel quälendere Unfreiheit. In eine Unfreiheit, aus der sie niemals entkommen würde, an der sie selbst schuld war. In der die untilgbare Schuld regierte, einen anderen Menschen getötet zu haben.
Sie hastete weiter, die Absätze klackerten auf dem Pflaster des Gehsteigs. Es war kühl und ihre Kleidung nicht warm genug. Was in dem Haus geschehen war, sie wagte nicht daran zu denken.
Eine schwere Limousine rollte die Straße entlang an den luxuriösen Wohnhäusern vorbei.
Unwillkürlich warf Mia einen Blick zur Seite, als das Fahrzeug auf ihrer Höhe war. Ein Mann saß am Steuer, achtete nicht auf sie. Neben ihm hatte sich eine Frau ungefähr ihres Alters zur Rückbank gewandt. Zwei Kinder, die sich weit nach vorn zur Mutter gebeugt hatten, saßen in ihren Sitzen und schienen gleichzeitig auf sie einzureden.
Dann war der Wagen vorüber. Mia sah den roten Rücklichtern nach, ihrer Spiegelung auf dem regennassen Asphalt.
86
Die Stadt schien sich wie eine gewaltige, riesenhafte Struktur aus Rohren, Flächen, Mauern, Rampen, Luken, Winkeln, Durchgängen, Gittern, Plattformen, Pfeilern, Türmen und Übergängen um sie herum auszubreiten. Ein Moloch aus Beton und Stahl, ein Gewebe, das sich immer weiter verzweigte, das wuchs und wucherte, in dem sie herumirrte.
Ein Wesen beinahe, das sie nur deshalb nicht als solches wahrnahm, weil sie zu sehr darin gefangen war. Ein Wesen, dessen Bewegungen bewirkten, dass sie immer tiefer in es hineinrutschte, sich immer unentwirrbarer in seiner Umklammerung verstrickte.
Die Stadt.
Mia schleppte sich weiter.
Die Nacht war vorangeschritten. Der Verkehr schien schneller geworden
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