Der Bilderwächter (German Edition)
Schwester«, betonte Bert.
» Sie dürfen ein Genie nicht mit normalen Maßstäben messen«, sagte Thorsten Uhland.
» Wie bitte?«, fragte Rick.
» Ruben hatte Visionen, weltumspannend und für alle Zeiten gültig. Für seine Kunst war ihm jedes Mittel recht. Da können Sie nicht daherkommen und ihn wie einen Kriminellen beurteilen.«
» Weltumspannend …« murmelte Rick.
Und Bert sagte: » Doch, Herr Uhland. Das können wir.«
Thorsten Uhland warf den Kopf zurück und ließ ihre Blicke abprallen. Er signalisierte deutlich, dass sie ihm jedes weitere Wort mühsam würden entringen müssen.
» Hier sind nun sämtliche Bilder vorhanden?«, fragte Bert unbeeindruckt.
Thorsten Uhland nickte.
» Wo haben Sie sie gefunden?«
» Die meisten in Rubens erstem Wohnhaus in Togstadt. Judith hatte sie bereits zusammengestellt. Auch in seinem zweiten Haus, der Villa im Kreis Wallstadt, wo er …«
» … seine Schwester gefangen gehalten hat«, half Bert liebenswürdig aus.
» Auch da gab es noch eine ganze Reihe von Bildern, die sich zum Zeitpunkt seines Unfalls nicht in seinem Atelier befunden hatten, sondern in anderen Räumen.«
» Und deshalb überlebt haben.«
» Ja. Ich hatte darüber hinaus noch weitere Quellen. Privatleute und kulturelle Einrichtungen, die Bilder von Ruben in Aufbewahrung hatten. Doch das gehört nicht hierher und hat mit dem Mord an Bodo ganz sicher nichts zu tun.«
Bert beschloss, es zunächst einmal dabei zu belassen. Er schritt durch den Raum und sah sich um, ebenso wie Rick, der am anderen Ende begonnen hatte.
Wenn man die Geschichte des Malers kannte, konnte man seine Bilder nicht mehr unbefangen betrachten. Ein Besessener hatte sie gemalt. Ein Entführer. Ein Terrorist.
Sie dürfen ein Genie nicht mit normalen Maßstäben messen.
Bert drehte sich zu Thorsten Uhland um, dem Mann, der Ruben Helmbachs Nachlass nun vermarkten würde.
Er fragte sich, was das in Ilka Helmbach auslösen musste.
In Rubens Haus ging es zu wie in einem Taubenschlag. Emilia saß schon den ganzen Vormittag am Fenster und hatte alles beobachtet. Zuerst war der Nachlassverwalter gekommen. Dann waren die Polizisten erschienen.
Und wieder weggefahren.
Der Nachlassverwalter war immer noch da.
Emilia versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Thorsten irgendwas.
Uhlenbach. Oder Uhlburg. Nein. Uhland.
Thorsten Uhland.
Genau.
Sie spürte selbst, wie sie strahlte. Es war jedes Mal ein kleiner Sieg, wenn sie sich an etwas erinnerte, das ihr entfallen war. Ein kleiner Sieg über die große Angst, irgendwann einmal die ganze Welt zu vergessen, auch sich selbst.
Emilia konnte es kaum ertragen: all die Menschen in Rubens Haus und wie sie es entweihten.
Wie sie die Bilder anschauten.
Berührten.
Befleckten.
Hortense tat so, als würde sie es nicht merken. Oder als mache es ihr nichts aus. Doch Emilia kannte sie zu gut, um ihr das zu glauben.
Was für eine elende Heuchlerin Hortense doch war.
Nach Rubens Tod hatten die Menschen und die Dinge die Maske fallen lassen, und man konnte ihnen bis auf den Grund sehen. Alles hatte sich verändert.
Auch in die schwarze Seele ihrer Schwester hatte Emilia geblickt und war schaudernd zurückgewichen.
Angestrengt spähte sie hinaus.
Ausgerechnet jetzt spürte sie wieder diese Stiche in der Brust, die sie immer öfter daran erinnerten, dass das Leben nicht ewig dauerte.
Das Tor bewegte sich und Emilia kniff die Augen zusammen.
» Mach jetzt nicht schlapp«, befahl sie ihrem dummen Herzen, dessen Wände sich zusammenzuziehen schienen. Vielleicht war es aber auch Gott, der ihr Herz in die Hand genommen hatte, um zu prüfen, ob es sich noch lohnte, es weiterschlagen zu lassen.
Seit Ruben von ihnen gegangen war, fürchtete sie den Tod nicht mehr. Es wäre ihr bloß lieber, Hortense den Vortritt zu lassen.
Jetzt erkannte sie draußen Ilka, die langsam auf Rubens Haus zuging.
Emilia legte die Hand auf die Brust und atmete langsam und tief. Das Erscheinen des Mädchens war kein gutes Zeichen. Vielleicht sogar der Anfang vom Ende.
Ilka hatte ihren Bruder beerbt. Wollte sie sich nun die Bilder holen?
Emilia suchte nach ihren Tabletten. Ihre Hände bebten, Schweiß trat ihr auf die Stirn und ihr Atem ging in kurzen, verzweifelten Stößen.
Da. Endlich.
Sie nahm die Tablette ohne Wasser. Und wartete darauf, dass die Schmerzen verschwanden.
*
Atemlos stapfte Ilka durch den Schnee. Sie hatte etwas völlig Verrücktes getan – sich ein Taxi genommen, um keine Zeit mit
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