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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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wilde Entschlossenheit, diesen Schleier der Unzugänglichkeit zu durchdringen – auf kindliche Weise zurückhaltend und selbstgenügsam zu sein –, all das lag jenseits seines geistigen Horizonts. Er war schließlich nur ein kleiner Junge.
     
    Im Herbst seines neunten Lebensjahrs berührten seine Lippen die oberen Aureolen beider Brustwarzen. Seine Lippen waren inzwischen auffallend groß und vorstehend; zu seinen täglichen Übungen gehörte ödes Dehnen mit Knopf und Bindfaden, um die Hypertrophie der Ringmuskulatur zu fördern. Die Fähigkeit, die gespitzten Lippen bis zu 10,4 Zentimeter weit vorschieben zu können, hatte oft den entscheidenden Unterschied ausgemacht, ob er Teile seines Brustkorbs erreichen konnte oder nicht. Und es war auch die Ringmuskulatur gewesen, mehr noch als seine herausragenden Fortschritte in der Wirbelsäulenbeugung, die es ihm schon vor dem neunten Geburtstag erlaubt hatte, die rückwärtigen Bereiche seines Skrotums und signifikante Abschnitte der papierigen Haut um den Anus zu berühren. Diese Körperzonen waren berührt, auf der vierseitigen Tabelle in seinem persönlichen Hauptbuch abgehakt, von Tinte gereinigt und dann vergessen worden. Der Junge hatte die Neigung, jede Körperregion zu vergessen, wenn er sie einmal mit den Lippen berührt hatte, als würde der Beweis ihrer Zugänglichkeit sie für ihn unwirklich machen, sodass sie fortan nur noch in der vierseitigen Tabelle »existierte«.
    Absolut und ausnehmend wirklich blieben für den Jungen in seinem elften Lebensjahr aber die Leibregionen, an denen er sich noch nicht versucht hatte: die Brustbereiche über dem kleinen Brustmuskel und im unteren Halsbereich zwischen Schlüsselbein und oberem Platysma sowie die glatten und endlosen Flächen und Gebiete seines Rückens (mit Ausnahme der lateralen Flächen von Kapuzen- und hinterem Deltamuskel, die er mit achteinhalb erreicht hatte), die sich von den Pobacken aufwärts erstreckten.
     
    Vier verschiedene approbierte Ärzte wurden konsultiert und bescheinigten anscheinend, dass die Stigmata der bayrischen Mystikerin Therese Neumann aus äußerlichen Hautstrukturen bestanden, die mittig durch ihre beiden Handflächen führten. Therese Neumanns zusätzliche Fähigkeit zur Inedie wurde außerdem schriftlich von vier Franziskanernonnen bezeugt, die sie von 1927 bis 1962 in Wechselschichten begleiteten und bestätigten, dass Therese fast fünfunddreißig Jahre lang weder feste noch flüssige Nahrung zu sich nahm; ihr einziger aktenkundiger Stuhlgang (am 12. März 1928) bestand Laboruntersuchungen zufolge ausschließlich aus Schleim und empyreumatischer Galle.
    Ein bengalischer Heiliger, der unter seinen Anhängern als »Prahansatha der Zweite« bekannt war, machte Phasen meditativer Gesänge durch, in denen seine Augen aus den Höhlen traten, nur noch durch die Sehnerven verbunden über seinen Kopf emporschwebten und dort rhythmische und stilisierte Kreisbewegungen vollführten, die westliche Zeugen an Beschwörungstänze viergesichtiger Shivas erinnerten, an verzauberte Schlangen, an die verflochtene Doppelhelix der DNS , an die kontrapungierten 8-förmigen Figuren, in denen die Umkreisungen von Milchstraße und Andromeda-Galaxis an der Grenze der »lokalen Gruppe« stattfinden, oder (angeblich) an all das zugleich.
     
    Untersuchungen der menschlichen Schmerzfähigkeit haben ergeben, dass die für Schmerzstimulationen empfindlichsten Teile des Bewegungsapparats das Periosteum und die Gelenkkapseln sind. Sehnen, Bänder und subchondrale Knochen werden als signifikant schmerzempfindlich eingestuft, die Empfindlichkeit von Muskeln und Knochenrinde als mäßig und Gelenk- sowie Faserknorpel als milde .
    Schmerz ist eine subjektive Erfahrung und als diagnostisches Objekt daher »unzugänglich«. Die Bewertung wird ferner durch die Berücksichtigung von Persönlichkeitstypen erschwert. Als Faustregel gilt aber, dass das beobachtete Verhalten eines Schmerzpatienten Auskünfte (a) über die Schmerzintensität erlaubt und (b) über die Fähigkeit des Patienten, damit umzugehen.
    Weitverbreitete Irrtümer über Schmerz sind:
Schwer verletzte oder todkranke Menschen leiden immer unter starken Schmerzen.
Je größer der Schmerz, desto größer das Ausmaß und dieSchwere der Verletzung.
Starke chronische Schmerzen sind Symptome unheilbarer Krankheiten.
    In Wahrheit leiden schwer verletzte oder todkranke Menschen nicht unbedingt unter starken Schmerzen. Und die wahrgenommene

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