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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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verändern.«

    Es war beinahe dunkel, als Falcón nach einem langen Umweg nach Hause kam. Als er das Haus betrat, stolperte er über zwei auf dem Boden liegende Pakete. Beide waren durch den Briefschlitz hineingeschoben worden und unadressiert. Sie waren nur mit der Aufschrift 1 und 2 versehen. Er trug sie in sein Arbeitszimmer, wo er ein Paar Gummihandschuhe aufbewahrte, die er überstreifte. Dann öffnete er das erste Paket und entnahm ihm einen Umschlag mit der Beschriftung SEHSCHULE LEKTION NR. 4. Auf der Karte in dem Umschlag stand: La muerte trágica del genio. Der tragische Tod des Genies.
    Außerdem befand sich noch etwas Schwerers, in dem Umschlag. Er legte die Karte auf den Tisch und leerte den Umschlag. Heraus fiel etwas, was er zunächst für eine gewöhnliche Glasscherbe hielt, was sich jedoch bei genauerem Hinsehen als eine Spiegelscherbe entpuppte. Er drehte sie mit der Spitze eines Kugelschreibers um. In einer Farbe, die aussah wie getrocknetes Blut, waren auf die Rückseite die Initialen P.L. geschrieben.
    Falcón lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er wusste, was Sergio tat. Er benutzte den Mythos der Medien, um ihm vorzumachen, er hätte Pepe Leal mit der Spiegelscherbe geblendet, als jener zum tödlichen Stoß angesetzt hatte. Javier glaubte ihm nicht. Es war einfach unmöglich. Interessant war es trotzdem – endlich hatte er Sergio zum Handeln provoziert. In diesem arroganten und unsubtilen Trick lag auch eine gewisse Verzweiflung.
    Er las die Karte in dem ebenfalls mit der Aufschrift SEHSCHULE versehenen zweiten Umschlag. Darauf standen die Worte, mit denen seine Mutter auf Manuelas Frage nach dem Inhalt der Urne geantwortet hatte. Andeutungen drängten gegen die Membran seines Bewusstseins, aber nichts sickerte durch. Er schnippte die Karte über den Schreibtisch und öffnete das zweite Päckchen, das eine Reihe von Fotokopien enthielt. An der Handschrift erkannte er, dass sie aus dem Tagebuch seines Vaters stammten.

    7. Juli 1962, Tanger
    Seit unserer Rückkehr aus NY habe ich Salgado ziemlich aus den Augen verloren, doch just als dieser Gedanke am flachen glatten Horizont meines Bewusstseins dahinschwebt, kommt ein Junge mit einer handschriftlichen Notiz auf dem Briefpapier des Hotel Rembrandt, in der Salgado mich bittet, sofort und allein ins Zimmer 321 zu kommen. Der Brief überrascht mich nicht. Ich habe hier kein Telefon. Erst auf dem Weg zum Boulevard Pasteur werde ich nervös. Was könnte passiert sein, dass es ihm einfällt, mich während meiner Arbeitszeit zu stören? Ich bin fasziniert und beunruhigt. Der Fahrstuhl des Hotel Rembrandt ist erst vor wenigen Jahren eingebaut worden, aber trotzdem ein eher holpriges Gefährt, bei dem man jeden Moment glaubt, das Seil würde reißen. Mit unguten Vorahnungen stehe ich schließlich vor der Tür von Zimmer 321. Zwischen der Tür zum Flur und dem eigentlichen Zimmer gibt es einen kurzen Korridor, eines jener Rätsel der Architektur, das nur für einen Anlass wie diesen geschaffen scheint. Denn so kann Salgado mich hineinziehen und mir die bitteren Umstände erklären, ohne dass das volle Grauen des Geschehenen uns gleich überwältigt.
    Die Kurzfassung – in dem Zimmer liegt ein toter Junge.
    Salgado erklärt mir, dass er aus Versehen ums Leben gekommen ist.
    »Aus Versehen?«, frage ich.
    »Er ist gefallen und hat sich den Kopf gestoßen«, sagt er. »Er muss falsch aufgeschlagen sein, aber er ist auf jeden Fall tot.«
    »Wie ist er gefallen?«
    »Er ist auf dem Weg ins Bad gestolpert … aber ich habe ihn wieder aufs Bett gelegt.«
    »Und warum rufen wir dann nicht die Polizei und erklären ihnen den Fall genau so?«
    Salgado schweigt.
    »Soll ich ihn mir mal ansehen?«, frage ich und warte nicht auf eine Antwort, sondern dränge mich an ihm vorbei ins Zimmer, wo der Junge aus einem verdrehten Laken zu wuchern scheint. Er hat einen Arm ausgestreckt, seine Zunge hängt heraus, und seine Augen quellen hervor. An seinem Hals erkenne ich Würgemale.
    »Ich glaube kaum, dass er sich den Kopf gestoßen hat, oder, Ramón?«
    »Es war ein Unfall.«
    »Ich weiß nicht, wie man aus Versehen jemanden erwürgen kann, Ramón.«
    Wir blinzeln uns an, und Ramón wendet sich unvermittelt zur Wand, fängt an, seinen Kopf dagegen zu schlagen und intoniert irgendetwas, das Baskisch klingt. Ich setze ihn auf einen Stuhl und frage ihn, was passiert ist. Er presst sich die Fäuste an den Kopf und wiederholt ständig, dass es ein Unfall war. Ich sage ihm,

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