Der Botschafter
Wieder einmal das übliche Wetter: grau, kalt und feucht. Sogar Ulster war besser als Paris im März. Sie ging ins Bad und sah in den Spiegel. Eine Fremde starrte ihr entgegen.
Ihr üppiges schwarzes Haar war von dem in Norwich benützten Bleichmittel glanzlos und strohig geworden. Ihr Teint war gelblich - zu wenig frische Luft, zu viele Zigaretten. Um die Augen hatte sie dunkle Ringe.
Sie zog ihre Lederjacke an, blieb vor der Schlafzimmertür stehen und hörte dahinter das Klirren von Hanteln. Als sie anklopfte, verstummte das Geräusch. Roderick Campbell öffnete die Tür und stand mit schweißglänzendem Oberkörper vor ihr. Campbell war ein Schotte, der in der britischen Armee gedient und sich danach in Afrika und Südamerika als Söldner verdingt hatte. Er hatte kurzes schwarzes Haar, einen Kinnbart und zahlreiche Tätowierungen auf Brust und Armen.
Auf seinem Bett lag eine nackte Nutte, die mit einer seiner Pistolen spielte.
»Ich gehe aus«, sagte sie. »Ich brauche frische Luft.«
»Paß auf, daß du nicht beschattet wirst«, ermahnte Campbell sie. Er sprach den weichen Dialekt seiner Heimat in den Highlands. »Soll ich mitkommen?«
»Nein, danke.«
Er hielt ihr eine Pistole hin. »Hier, nimm.«
Der Aufzug war wieder einmal außer Betrieb, deshalb ging sie die Treppe hinunter. Gott, war sie froh, aus diesem Loch herauszukommen! Sie war wütend auf Kyle Blake, weil er sie zu diesem Campbell geschickt hatte. Andererseits hätte alles noch viel schlimmer sein können. Sie hätte wie die anderen inhaftiert oder tot sein können. Die kalte Luft tat ihr gut, und sie machte einen langen Spaziergang. Gelegentlich blieb sie vor einem Schaufenster stehen, um den Gehsteig hinter sich zu kontrollieren. Sie war überzeugt, nicht beschattet zu werden.
Zum erstenmal seit vielen Tagen fühlte sie sich wirklich hungrig. Sie betrat ein kleines Café und bestellte in ihrem schaurigen Französisch eine Omelette aux fines herbes und einen Café creme. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, sah aus dem Fenster und fragte sich, ob sie ihr restliches Leben so verbringen würde - in fremden Städten lebend, von Menschen umgeben, die sie nicht kannte.
Sie wollte zu Ende bringen, was sie begonnen hatten; sie wollte Botschafter Douglas Cannons Tod. Aber sie wußte, daß die Ulster Freedom Brigade nicht mehr imstande war, diesen Auftrag auszuführen; effektiv gab es keine Ulster Freedom Brigade mehr. Sollte der Botschafter ermordet werden, würde ein anderer den Auftrag übernehmen müssen. Sie hatte sich hilfesuchend an Roderick Campbell gewandt. Er kannte Männer, wie Rebecca sie brauchte: Männe r, die berufsmäßig töteten; bezahlte Killer, die nur für Geld mordeten.
Als der Ober das Omelette servierte, verschlang Rebecca es hastig. Sie wußte nicht, wann sie die letzte richtig zubereitete Mahlzeit gegessen hatte. Als sie fertig war, tunkte sie Baguettestücke in ihren Kaffee und aß sie ebenfalls. Der Ober kam wieder vorbei und schien sich zu wundern, daß ihr Teller schon leer war.
»Ich bin hungrig gewesen«, murmelte sie verlegen.
Rebecca zahlte und verließ das Café. Sie zog den Reißverschluß ihrer Jacke bis zum Hals hoch und wollte durch eine ruhige Seitenstraße zu der Wohnung in Montparnasse zurückgehen. Im nächsten Augenblick hörte sie hinter sich ein auffällig langsam fahrendes Auto. Sie trat rasch in eine Telefonzelle und gab vor, eine Nummer zu wählen, während sie das jetzt haltende Auto betrachtete: ein großer schwarzer Citroen, in dem drei Männer saßen - zwei vorn, einer hinten.
Vielleicht die französische Polizei, dachte sie. Vielleicht der französische Geheimdienst. Vielleicht Freunde Rodericks.
Vielleicht niemand, der sich für sie interessierte.
Sie verließ die Telefonzelle und ging schneller. Trotz der Kälte schwitzte sie plötzlich. Der Fahrer des Citroens gab Gas und fuhr mit aufheulendem Motor an. Mein Gott, dachte sie erschrocken, sie wollen mich überfahren! Sie wandte den Kopf ab, als die Limousine scharf bremste und wenige Meter vor ihr hielt.
Die rechte hintere Tür wurde geöffnet. Der hinten sitzende Mann beugte sich über den Rücksitz und sagte: »Guten Tag, Miss Wells.«
Rebecca fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie blieb stehen und starrte den Mann an. Er hatte öliges blondes Haar, das er glatt zurückgekämmt trug, und einen blassen, von der Sonne verbrannten Teint. »Bitte steigen Sie ein. Auf der Straße können wir uns leider nicht unterhalten, das
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