Der Dieb der Finsternis
ein großer Gebetsteppich lag. Der Stern mit dem Halbmond war in eine der Ecken gewebt, die zu der Wand zeigte, an der die Sonne bei Morgengrauen über der Stadt erglühte. Ein mittelgroßes Tabernakel stand neben einem zweiten Altar, und in die kleine Holztür des Schränkchens war ein Davidstern geschnitzt.
Es war eine private Kapelle, in der Freunde unterschiedlichen Glaubens gemeinsam zu ihrem jeweiligen Gott beten konnten. Ein Raum, in dem sie sich als Einheit versammeln konnten. Hier konnten Menschen, die man aus ihren Familien, ihrem Zuhause und ihren christlichen und jüdischen Heimatländern herausgerissen hatte, im Geheimen zu dem Gott beten, dem sie unter Zwang hatten abschwören müssen. Nur war es in Wahrheit der gleiche Gott. Die Unterschiede machten die drei Glaubensrichtungen aus, deren Wege jedoch alle zurückführten zu Abraham, dem gemeinsamen Nenner eines gemeinsamen Gottes.
Michael blickte auf die Altäre, auf den islamischen Halbmond mit Stern, auf das christliche Kreuz und auf den jüdischen Davidstern. Dabei versuchte er, sich nicht nur die Weisheit des Mannes vor Augen zu führen, der diese Kapelle erbaut hatte, sondern auch den Weitblick derer, die heimlich die Gläubigen hier hineingeführt hatten. Er wünschte, ihr Verständnis und ihre Toleranz würden so laut erklingen, dass die ganze Welt es hörte.
Als Michael durch die Kapelle ging und den Blick über die fünfhundert Jahre alten Kunstwerke schweifen ließ, entdeckte er ein komplexes, detailreiches Wandgemälde, das das alte Konstantinopel zeigte. An der rückwärtigen Wand befanden sich wunderschöne Mosaike, jedoch kein Safe und keine Kammer. Der Boden war aus massivem Fels, die Wände aus Granit. Dies hier war ein Refugium, das man in die Erde gemeißelt hatte. Die Altäre waren aus festem Stein, die Kniebänke und Stühle aus Zypressenholz und die Teppiche aus dicht geknüpfter Wolle. Diese natürlichen Materialien hatten einem halben Jahrtausend getrotzt.
Michael blickte auf die hintere Wand, auf die Schönheit der Mosaikfliesen, die einen großen Teil der Rückwand der Kapelle zierten. Es waren Szenen, die in überwältigendem Detailreichtum dargestellt waren. Das erste Bild zeigte einen üppigen Garten, der sich um zwei große Obstbäume herum erstreckte, deren grüne Blätter auf den Keramikfliesen wie lebendig wirkten. Um die Bäume und den Garten herum erhoben sich Städte, aufstrebende Metropolen der Vergangenheit. Es gab keine Autos, keine Züge, wohl aber dreimastige Schiffe, die über ein Wasser segelten, das eine unglaublich blaue Farbe hatte. In der Ferne erhoben sich die ägyptischen Pyramiden, das blühende und gedeihende Jerusalem, Mekka in all seinem Glanz und Rom zu einer Zeit, als das Imperium Romanum noch nicht zerfallen war.
Es war ein Kunstwerk, in dem verschiedene heilige Stätten der Antike miteinander verwoben waren: Bilder aus einer Zeit, die zwischen fünfhundert und zweitausend Jahre zurücklag, waren dargestellt als eine einzige, gewaltige, die Zeit umspannende Welt des Friedens, die durch die Meere miteinander verbunden war, auf deren Wassern die alten Schiffe segelten.
Als Michael an dem Meisterwerk aus Mosaikfliesen hinaufblickte, legten sich die friedliche Stille und die samtene Dunkelheit der Nacht über den blauen Himmel und schienen geradewegs hinein ins Paradies zu führen; es war die vollkommene Verheißung der Erlösung. Engel standen zwischen gewöhnlichen Männern und Frauen, die hier friedlich zusammengekommen waren. Es waren Menschen aller Rassen, Glaubensrichtungen und Hautfarben: Priester und Imame, Rabbiner und Mönche, Muslime und Christen, Hindus und Buddhisten, Juden und Kelten – alle waren versammelt, als verstünden sie endlich die wahre Bedeutung der Ewigkeit. Es erfüllte Michael mit Hoffnung. Die Darstellung dieses Künstlers, dieses Mosaik aus der Vergangenheit, gab ihm Hoffnung.
Doch diese Hoffnung schwand, als sein Blick auf das dritte und letzte Kunstwerk fiel. Es befand sich unter der Darstellung der Menschen, Städte und Völker. Es sickerte aus der düster gewordenen Erde hinunter in den absoluten Inbegriff der Hölle, in eine Welt des unvergleichlich Bösen, in ein Land, in dem es von leidenden, wehklagenden Menschen wimmelte, die ihre Toten hielten. Finstere Gestalten lauerten in den Schatten, lugten mit gelben Augen aus der Dunkelheit. Eine Welt glühender Hitze und klirrender Kälte, eine Welt der Folter und des Leidens. Zerschmetterte Leiber, abgerissene
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