Der Dieb der Finsternis
Gliedmaßen, die überall verstreut lagen, Städte, die in Flammen standen, Flüsse, in denen die Leichen in ihrem eigenen Blut trieben. Riesen hielten Schwerter in den Händen, von denen das Blut tropfte, und an ihren Gürteln hingen die Köpfe Enthaupteter.
Michael wurde übel. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie, schluckte und versuchte, tief durchzuatmen. Es war, als hätte das dargestellte Böse plötzlich Besitz von ihm ergriffen, sowohl von seinem Verstand als auch von seiner Seele. Was trieb einen Künstler dazu, etwas derart Finsteres zu schaffen? Michael konnte es nicht glauben, wollte es nicht fassen. Doch das Grauen, das es in ihm auslöste, war wie ein Schock, der ihn in die Gegenwart zurückriss.
Und plötzlich wusste er, wo die Karte versteckt war.
Die Erkenntnis brach ihm fast das Herz. Denn was er jetzt tun musste, war eine Versündigung an einer der größten Schöpfungen der Welt, einer Darstellung, die an den Grundfesten der Menschheit rührte. Es war ein Kunstwerk, das die Menschen und ihr Schicksal meisterlich erfasste und das nun für immer verloren sein würde.
Michael zog einen Meißel und einen Hammer aus seiner Tasche und ging zur Mosaikwand.
Er setzte den Meißel am Mittelpunkt der Wand an und hob den Hammer. Dann schloss er die Augen, bat um Vergebung und schlug den Hammer mit Wucht auf den Meißel.
Die Stadt Jerusalem zerbarst. Risse, die wie ein Spinnennetz aussehen, bildeten sich oben, unten und an den Seiten auf den antiken Welten, als zerstöre Gott persönlich die Menschheit. Die Mosaikfliesen fielen zu Boden. Es hörte sich an, als würde Glas zerbrechen. Immer wieder schlug Michael auf das Meisterwerk ein, bis das gesamte Mittelstück heruntergefallen war.
Im ersten Moment erschrak er, weil er mit einem Mal befürchtete, es sei unnötig gewesen, den Raum zu verschandeln, doch als er seine Taschenlampe näher daran hielt, sah er es. Es war zuerst nur schwach, ein schwarzer Schemen, kaum zu unterscheiden von der irdenen Wand. Es war Harz, die gleiche dunkle, teerartige, wasserfeste und klebrige Substanz, die man für Dächer und Boote benutzte. Als Michael mit der Hand auf die trockene Oberfläche klopfte, konnte er hören, dass die Wand dahinter hohl war. Er klopfte mit seinem Meißel den gesamten Bereich ab. Er war sechzig mal sechzig Zentimeter groß, und die schwarze organische Substanz diente als hermetische Versiegelung.
Michael beseitigte die Harzversiegelung und fand dahinter eine Holzkiste. Er hob sie aus der Einbuchtung und stellte sie auf den Boden. Die Kiste war aus Zypressenholz und mit schwarzem Teer beschichtet. Auf der Rückseite waren Messingscharniere. Der Verschluss war bloß ein Zierstück und sprang sofort auf, als Michael mit dem Meißel dagegen drückte.
Behutsam hob er den Deckel und hielt dabei die Luft an. Gespannt klappte er den Deckel nach hinten, hob seine Taschenlampe vom Boden auf und leuchtete hinein. Die Kiste war trocken; die wasserfeste Versiegelung hatte gehalten, und die Gegenstände, die vor ihm lagen, waren unversehrt. Michael griff hinein und zog eine Hand voll Münzen heraus. Sie waren aus Gold und Silber, Kupfer und Zinn. Ihre Prägungen zeigten die Gesichter von Sultanen und Königen. Doch es gab auch römische Münzen und ägyptische Zahlungsmittel.
Noch einmal griff Michael in die Kiste und zog eine zusammengerollte Karte heraus. Sie war mit einer Schnur umwickelt und aus weich gegerbter Tierhaut. Michael zerschnitt die Kordel, rollte die Karte vorsichtig aus und wagte endlich auszuatmen.
Er schaute auf die Karte. Sie war groß und mit zahllosen Details, Notizen und Bilderklärungen versehen.
Michael stöhnte auf.
Dies hier war nicht die zweite Hälfte der Piri-Reis-Karte. Das war nicht die Karte, mit der sie KCs Schwester freibekommen oder Simon retten konnten. Es war nicht die Karte, nach der er suchte. Diese Karte hier stellte Städte und Reiserouten dar. Sie zeigte Europa und den Mittleren Osten. Es war eine Karte, die zu den heiligsten Stätten der drei größten Religionen führte. Nach Mekka, Jerusalem und Bethlehem; nach Medina, auf den Berg Sinai und nach Hebron. Es war eine Karte, die den Menschen an jene Orte führte, an denen er auf Erden Gott, Allah, Jahwe nahe sein konnte.
Michael setzte sich auf den Boden, erschüttert über sein Scheitern. Er hatte sich alles aus Simons Notizen und KCs Recherchen zusammengereimt. Nur hatte er keine Zeit gehabt, die vorliegenden Informationen persönlich zu
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