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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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könne die Aufmerksamkeit auf sie richten. Sie hielt sich nahe an den Schornsteinen und suchte die Dächer nach Wachpersonal ab, nach Stolperdrähten, nach allem, was nicht dorthin gehörte. Sie war vorsichtig, rannte aber trotzdem schnell. Ihr blaues Abendkleid hatte sie hochgezogen und um der Taille verknotet, damit es sie beim Laufen nicht behinderte.
    Sie erreichte das Gebäude, in dem die Miniaturen und Manuskripte ausgestellt waren, und blickte vom Dach auf den Bagger im dritten Hof hinunter. Das mit Absperrungen gesicherte Loch war ein schwarzer Fleck inmitten des nächtlich dunklen Geländes. Auf dem Gelände war keine Menschenseele, sah man von den beiden Wachen ab, die in der Ferne am Tor der Glückseligkeit postiert waren. Deren Aufmerksamkeit war jedoch ganz auf die Festivitäten gerichtet und darauf, die Menschenmenge in Schach zu halten. Dass sich hinter ihrem Rücken etwas abspielte, war den Wachen bisher entgangen.
    KC bekreuzigte sich, griff mit den Händen an die Dachrinne, hängte sich daran und sprang. Sie landete in der Hocke inmitten niedriger Büsche und einem Gewirr von Gartenschläuchen. Ihr Körper reagierte auf den Sprung aus drei Metern Höhe mit einer Woge aus Schmerz, die ihren gesamten Körper durchflutete.
    Sie huschte hinüber zur Baustelle und kauerte sich zwischen Schaufeln, Harken und Hacken hinter den Bagger. Dann zog sie das Funkgerät aus ihrer Tasche, stellte die Lautstärke so niedrig wie möglich ein und drückte die Sprechtaste. »Michael«, wisperte sie. »Bist du da, Michael?«
    Im nächsten Moment erübrigte es sich für KC, auf Antwort zu warten; ihre Angst hatte sich bestätigt, denn sie sah das Seil auf dem Boden liegen. Es führte von der Achse des Baggers, an dem es verknotet war, in Richtung des Baulochs, endete aber, bevor es das Loch erreichte, und lag durchtrennt und zerfranst da.
    Ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden, schnappte KC sich einen der langen Gartenschläuche aus den Büschen, zog ihre Taschenlampe heraus und leuchtete damit in das dunkle Loch hinein. Es war genau so eng, wie sie es in Erinnerung hatte, und sie konnte das Wasser glitzern sehen, als das Licht ihrer Lampe durch den Schacht der Zisterne tanzte. Sie zog ihr Kleid aus und steckte es zusammen mit der Taschenlampe in die Tasche. Ihre nackte Haut glänzte im Licht des aufgehenden Mondes, als sie rasch das lange schwarze Hemd überzog und ihr Haar auf dem Scheitel zusammenband. Dann wickelte sie den Schlauch zweimal um den Rahmen des Bagger-Fahrgestells und verknotete ihn.
    KC schaute auf die Lederröhre, in der sie den Sultansstab transportierte. Sie konnte nur hoffen, dass das Behältnis wirklich so wasserdicht war, wie Michael behauptet hatte. Sie nahm zwar nicht an, dass Feuchtigkeit dem Objekt aus Holz und Edelmetall wirklich etwas anhaben konnte, aber sie wollte nicht, dass es nass wurde oder sonst wie zu Schaden kam, bevor sie ihre Schwester zurückhatte. Sie erwog, den Stab zusammen mit ihrer Tasche zu verstecken, entschied sich dann aber dagegen, dieses Risiko einzugehen. Murphy lauerte hinter jeder Ecke, allzeit bereit, die Unvorbereiteten und Törichten mit seinem Gesetz zu konfrontieren. KC hängte sich ihre Tasche quer über Schulter und Brust; anschließend verfuhr sie mit der ledernen Transportrolle genauso. Die beiden Tragegurte sahen aus wie ein schicker Bandelier.
    Schließlich wand KC sich den Gartenschlauch um den Körper, hielt sich daran fest und begann mit dem Abstieg in die Dunkelheit. Sie glitt die zwölf Meter hinunter in die Schwärze, entschlossen, ihrer Phobie keinen Raum zu geben, und tauchte ein in das kalte Wasser, das eisige Schauer durch ihren Körper jagte.
    Im nächsten Moment spürte sie es: Das Wasser war nicht ruhig wie bei ihrem ersten Besuch. Diesmal schien sie inmitten von Stromschnellen zu stehen, in denen das Wasser um ihren Körper herumwirbelte, ein tosender Strom unbekannter Herkunft, der sich gewaltig von dem stillen Gewässer unterschied, das es vierundzwanzig Stunden zuvor gewesen war. Und wo sie gestern noch in einer stillen, unberührten Welt ein bisschen Frieden empfunden hatte, erschallte jetzt donnerndes Dröhnen aus der Zisterne.
    KC klammerte sich an den Gartenschlauch, zog ihre Taschenlampe aus der Tasche und schaltete sie ein. Sie sah sich in der Zisterne um, leuchtete mit ihrer Lampe in sämtliche Richtungen. Das bitterkalte Wasser strömte wie ein Gebirgsfluss im Frühling, der von der Schneeschmelze angeschwollen

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