Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
noch nicht.
Die Stallburschen führten ihre Pferde weg, und die drei blieben noch kurz am unteren Ende der Treppe stehen – ziemlich dicht zusammengedrängt, so wie Pferde bei einem Unwetter –, wo das Licht der Fackeln auf ihren Gesichtern spielte. Von innen erklangen Gitarren, Stimmen schwollen zu einer neuerlichen Lachsalve an.
»Klopfen wir?«, fragte Cuthbert. »Oder machen wir einfach auf und marschieren rein?«
Roland blieb die Antwort erspart. Die Haupttür der haci wurde aufgerissen, und zwei Frauen kamen heraus, beide in langen Kleidern mit weißen Kragen, die die Jungs an die Kleider erinnerten, welche auch die Viehzüchterfrauen in ihrem Teil der Welt trugen. Sie hatten das Haar mit Netzen zurückgebunden, in denen helle Glasperlen wie Diamanten im Fackellicht funkelten.
Die untersetztere der beiden kam nach vorn, lächelte und machte einen tiefen Hofknicks. Ihre Ohrringe, die wie quadratisch geschnittene Feuerjuwelen aussahen, blitzten und hüpften auf und ab. »Ihr seid die jungen Männer vom Bund, das seid ihr, und ihr seid willkommen. Guten Abend, junge Herren, und mögen eure Tage auf Erden lang sein!«
Die Jungen verbeugten sich alle gleichzeitig mit vorgestreckten Stiefeln, und dankten ihr in einem unabsichtlichen Chor, bei dem sie lachte und in die Hände klatschte. Die hoch gewachsene Frau neben ihnen schenkte ihnen ein Lächeln, das so schmal war wie ihre Gestalt.
»Ich bin Olive Thorin«, sagte die untersetzte Frau, »die Gattin des Bürgermeisters. Und das hier ist Coral, meine Schwägerin.«
Coral Thorin, die immer noch dieses schmale Lächeln zur Schau trug (sie verzog dabei kaum die Lippen, und ihre Augen waren überhaupt nicht davon betroffen), machte einen angedeuteten Hofknicks. Roland, Cuthbert und Alain verbeugten sich wieder über ihren ausgestreckten Beinen.
»Ich heiße euch auf Seafront willkommen«, sagte Olive Thorin, und ihr ungezwungenes Lächeln sowie ihr unverhohlenes Staunen über die Ankunft ihrer jungen Besucher aus Innerwelt steigerten ihre Würde und verliehen ihr etwas Freundliches. »Betretet unser Haus mit Freuden. Das sage ich aus vollem Herzen, das tue ich.«
»Und das werden wir, Madam«, sagte Roland, »haben uns Euer Empfang doch mit Freude erfüllt.« Er nahm ihre Hand, hob sie ohne eine Spur von Berechnung zu den Lippen und deutete einen Kuss an. Über ihr entzücktes Lachen daraufhin musste er lächeln. Er mochte Olive Thorin auf den ersten Blick, und wahrscheinlich war es auch gut, dass er so jemanden gleich zu Anfang kennen lernte; mit der problematischen Ausnahme von Susan Delgado nämlich sollte er den ganzen Abend über niemanden kennen lernen, den er mochte oder dem er vertraute.
6
Es war trotz der Brise vom Meer recht warm, und der Aufseher über Mäntel und Jacken im Foyer sah aus, als hätte er wenig bis gar keinen Zulauf. Roland stellte nicht sonderlich überrascht fest, dass es sich um Hilfssheriff Dave handelte, der seine verbliebenen Haarsträhnen mit einer Art von glänzender Pomade zurückgekämmt hatte und dessen Monokel nun auf der schneeweißen Brust einer Hausdienerjacke lag. Roland nickte ihm zu. Dave, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, erwiderte das Nicken.
Zwei Männer – Sheriff Avery und ein älterer Herr, der so hager aussah wie der alte Doktor Tod in gewissen Karikaturen – kamen auf sie zu. Hinter ihnen, jenseits einer Doppeltür, deren Flügel nun weit offen standen, wartete ein ganzer Raum voller Menschen, die Punschgläser aus Kristall in Händen hielten, lachten und sich von den Tabletts, die herumgetragen wurden, mit Speisen bedienten.
Roland hatte gerade noch Zeit, einen verkniffenen Blick auf Cuthbert zu werfen: Alles. Jeder Name, jedes Gesicht… jede Nuance. Besonders diese.
Cuthbert zog eine Braue hoch – seine diskrete Version eines Nickens –, und dann wurde Roland, ob er wollte oder nicht, in den Abend hineingezogen, sein erster echter Abenddienst als arbeitender Revolvermann. Und er hatte selten härter gearbeitet.
Der alte Doktor Tod entpuppte sich als Kimba Rimer, Thorins Kanzler und Inventarminister (Roland vermutete, dass letzterer Titel eigens für ihren Besuch erfunden worden war). Er war fast eine Handbreit größer als Roland, der in Gilead schon als groß galt, und seine Haut war so blass wie Kerzenwachs. Kein ungesundes Aussehen; nur blass. Eisengraue Haarsträhnen, fein wie Sommerfäden, umwehten rechts und links den Kopf. Der Schädel war vollständig kahl.
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