Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
höchstwahrscheinlich Unehrenhaftes. Hart ahnte möglicherweise ein bisschen davon, aber sie vermutete, dass er nur das wusste, was Kimba Rimer und dieser grässliche hinkende Mann ihn wissen lassen wollten.
Es hatte eine Zeit gegeben, und die lag noch gar nicht so lange zurück, da hätte sich Hart von Leuten wie Rimer nicht auf diese Weise hinters Licht führen lassen, eine Zeit, da hätte er nur einen Blick auf Eldred Jonas und dessen Freunde werfen müssen, um sie dann nach Westen zu schicken, noch bevor sie auch nur eine einzige warme Mahlzeit im Bauch gehabt hätten. Aber das alles war gewesen, bevor Hart sich völlig in Sai Delgados graue Augen, ihren straffen Busen und ihren flachen Bauch vernarrt hatte.
Olive drehte die Lampe herunter, blies die Flamme aus und kroch ins Bett, wo sie bis zum Einbruch der Dämmerung wach liegen würde.
Um ein Uhr hielt sich niemand mehr in den öffentlichen Räumen im Haus des Bürgermeisters auf, abgesehen von vier Putzfrauen, die ihre Arbeit stumm (und nervös) unter der Aufsicht von Eldred Jonas verrichteten. Als eine von ihnen hochsah und feststellte, dass er nicht mehr in dem Sessel am Fenster saß, wo er geraucht hatte, murmelte sie ihren Freundinnen leise etwas zu, und alle entspannten sich ein wenig. Aber es wurde weder gesungen noch gelacht. Il spectro, der Mann mit dem blauen Sarg auf der Hand, hatte sich vielleicht nur in den Schatten zurückgezogen. Vielleicht beobachtete er sie immer noch.
Um zwei Uhr waren selbst die Putzfrauen gegangen. Es war die Stunde, da eine Abendgesellschaft in Gilead gerade einmal den Höhepunkt an Prunk und Klatsch erreicht hätte, aber Gilead war weit entfernt, nicht nur in einer anderen Baronie, sondern fast in einer anderen Welt. Hier aber war man im Äußeren Bogen, und im Äußeren gingen selbst die Edelleute früh zu Bett.
Im Traveller’s Rest jedoch waren keine Edelleute zu sehen, und unter dem allumfassenden Blick des Wildfangs war die Nacht noch immer recht jung.
2
Am einen Ende des Saloons tranken Fischersleute, die noch ihre heruntergerollten Stiefel trugen, und spielten Watch Me um kleine Einsätze. Zu ihrer Rechten war ein Tisch, an dem gepokert wurde; zur Linken stand eine Traube schreiender, schwitzender Männer – überwiegend Kuhhirten – am Satansbahn genannten Würfeltisch und sahen zu, wie die Würfel über den Filzbelag rollten. Am anderen Ende des Raums hämmerte Sheb McCurdy einen zackigen Boogie ins Klavier, ließ die rechte Hand fliegen und walkte mit der linken die Begleitung, während ihm Schweiß über den Hals und die blassen Wangen lief. An seiner Seite, über ihm, stand Pettie das Trampel betrunken auf einem Hocker, ließ ihre enorme Kehrseite kreisen und plärrte den Text des Songs aus vollem Hals: »Come on over, baby, we got chicken in the barn, what barn, whose barn, my barn! Come on over, baby, baby got the bull by the horns…«
Sheemie blieb neben dem Klavier stehen, hielt den Kameleimer in einer Hand, grinste zu ihr hinauf und versuchte, mitzusingen. Pettie tätschelte ihn, ohne eine Textzeile, einen Hüftschwung oder einen Schritt zu verpassen, und Sheemie trollte sich bald mit einem eigentümlichen Lachen – lauthals, aber irgendwie nicht unangenehm.
Eine Partie Wurfpfeile wurde gespielt; in einer Nische ziemlich hinten gelang es einer Hure, die sich selbst Gräfin Jillian von Up’ard Killian nannte (verbanntes Mitglied der Königlichen Familie des fernen Garlan, meine Lieben, oh, wie sind wir was Besonderes), zwei Freiern gleichzeitig einen runterzuholen und dazu noch Pfeife zu rauchen. Und an der Bar tranken eine ganze Schar der unterschiedlichsten Schläger, Gammler, Kuhhirten, Viehtreiber, Kutscher, Fuhrleute, Stellmacher, Wichtigtuer, Zimmerleute, Hochstapler, Fischer und Revolverhelden unter dem zweifachen Kopf des Wildfangs.
Die beiden einzigen echten Revolverhelden im Saloon saßen am Ende des Tresens und tranken für sich allein. Niemand machte Anstalten, sich zu ihnen zu gesellen, aber nicht nur, weil sie Schießeisen in ihren Holstern stecken hatten, die sie nach Art von Revolvermännern tief am Oberschenkel festgebunden trugen. Revolver waren in jener Zeit zwar ungewöhnlich, aber nicht unbekannt in Mejis und wurden nicht unbedingt gefürchtet, aber diese beiden hatten das mürrische Aussehen von Männern, die einen langen Tag damit verbracht hatten, eine Arbeit zu erledigen, die sie nicht gern taten – das Aussehen von Männern, die grundlos einen Streit
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