Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Sheb drehte sich um, sah Sheemie vor einem von Jonas’ Männern knien und hörte auf zu spielen. Pettie, die die Augen zugekniffen hatte, damit sie ihre ganze Seele in den Gesang legen konnte, fuhr noch zwei oder drei Takte a cappella fort, bis ihr das Schweigen auffiel, das sich wie eine Welle fortpflanzte. Sie hörte auf zu singen und schlug die Augen auf. Diese Art von Schweigen bedeutete für gewöhnlich, dass jemand getötet werden würde. Wenn dem so war, hatte sie nicht die Absicht, es sich entgehen zu lassen.
Depape stand völlig reglos da und inhalierte den durchdringenden Alkoholgeruch. Im Großen und Ganzen störte ihn der Gestank nicht; dem Gestank von Kiefernharz war das allemal haushoch überlegen. Auch wie ihm seine Hosen an den Knien klebten, störte ihn nicht. Es hätte ein wenig ärgerlich sein können, wenn etwas von dem Freudensaft in seine Stiefel gespritzt wäre, aber das war nicht der Fall.
Er ließ die Hand auf den Griff seines Revolvers fallen. Hier, bei Gott und Göttin, war etwas, womit er sich von seinen klebrigen Händen und seiner abwesenden Hure ablenken konnte. Und ein guter Spaß war allemal eine feuchte Hose wert.
Inzwischen lag Schweigen über dem ganzen Saloon. Stanley stand steif wie ein Soldat hinter dem Tresen und zupfte nervös an einem seiner Ärmelhalter. Am anderen Ende des Tresens sah Reynolds interessiert zu seinem Partner. Er nahm eine Muschel aus dem dampfenden Eimer und schlug sie an der Kante des Tresens wie ein gekochtes Ei auf. Sheemie, der zu Depapes Füßen lag, sah hoch, und seine Augen unter dem schwarzen Haarschopf waren ängstlich aufgerissen. Er gab sich die größte Mühe zu lächeln.
»Also, Junge«, sagte Depape. »Du hast mich ziemlich nass gemacht.«
»Entschuldige, Großer, hab holper-di-stolper gemacht.« Sheemie zeigte mit einer Hand zuckend über die Schulter; ein paar Tropfen Kamelpisse flogen dabei von seinen Fingerspitzen. Irgendwo räusperte sich jemand unruhig – hrrhm-hrrhm! Der Raum war voller stummer Blicke und so still, dass sie alle den Wind in den Erkern und die Wellen hören konnten, die sich zwei Meilen entfernt bei Hambry Point an den Felsen brachen.
»Einen Scheißdreck hast du«, sagte der Kuhhirte, der zusammengezuckt war. Er war um die zwanzig und hatte plötzlich Angst, er würde seine Mutter nie mehr wiedersehen. »Versuch bloß nicht, mir deinen Ärger anzuhängen, verdammter Schwachkopf.«
»Mir ist egal, wie es passiert ist«, sagte Depape. Er merkte, dass er vor Publikum spielte, und wusste genau, dass das Publikum vor allen Dingen unterhalten werden wollte. Sai R. B. Depape, immer ein Sportsmann, wollte ihm den Wunsch erfüllen.
Er kniff über den Knien in den Kordstoff seiner Hose, zog die Hose hoch und ließ die Stiefelspitzen sehen. Sie waren glänzend und nass.
»Schau her! Sieh dir an, was du mir auf die Stiefel geschüttet hast.«
Sheemie sah grinsend und voller Todesangst zu ihm auf.
Stanley Ruiz entschied, dass er das nicht zulassen konnte, ohne wenigstens einen Versuch zu unternehmen, es zu verhindern. Er hatte Dolores Sheemer gekannt, die Mutter des Jungen; es bestand sogar die Möglichkeit, dass er selbst der Vater des Jungen war. So oder so, er mochte Sheemie. Er war schwachsinnig, hatte aber ein goldenes Herz, er trank nie und machte immer seine Arbeit. Außerdem hatte er selbst an den kältesten, nebligsten Wintertagen immer ein Lächeln für einen parat. Das war eine Begabung, die die meisten Menschen mit normaler Intelligenz nicht hatten.
»Sai Depape«, sagte er, kam einen Schritt vorwärts und sprach mit tiefer, respektvoller Stimme. »Es tut mir sehr Leid. Eure Getränke gehen den Rest des Abends auf Kosten des Hauses, wenn wir dafür diesen bedauerlichen Zwischenfall…«
Depapes Bewegung war so schnell, dass man sie kaum sehen konnte, aber das erstaunte die Leute, die sich an diesem Abend im Traveller’s Rest aufhielten, nicht so sehr; sie gingen davon aus, dass ein Mann, der mit Jonas ritt, schnell sein würde. Was sie erstaunte, war die Tatsache, dass er sich nicht einmal umdrehte, um sein Ziel ins Auge zu fassen. Er lokalisierte Stanley allein durch dessen Stimme.
Depape zog seine Waffe und schwenkte sie in einem Aufwärtsbogen nach rechts. Sie traf Stanley Ruiz genau auf den Mund, quetschte seine Lippen und zertrümmerte drei seiner Zähne. Blut spritzte auf den Spiegel hinter dem Tresen; einige Tropfen, die besonders hoch spritzten, verzierten die linke Nase des Wildfangs. Stanley
Weitere Kostenlose Bücher