Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schrie, schlug die Hände vors Gesicht und taumelte gegen das Regal hinter ihm. In der herrschenden Stille klang das Klirren der Flaschen äußerst laut.
Am anderen Ende des Bartresens öffnete Reynolds eine weitere Muschel und beobachtete alles fasziniert. Das Ganze war so gut wie ein Theaterstück.
Depape wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem vor ihm knienden Jungen zu. »Putz mir die Schuhe«, sagte er.
Ein Ausdruck mäßiger Erleichterung kam über Sheemies Gesicht. Die Schuhe putzen! Ja! Jede Wette! Auf der Stelle! Er zog das Tuch heraus, das er immer in der Gesäßtasche mit sich trug. Es war noch nicht einmal schmutzig. Jedenfalls nicht sehr.
»Nein«, sagte Depape geduldig. Sheemie sah mit offenem Mund erstaunt zu ihm auf. »Steck diesen hässlichen Fetzen dahin, wo er hergekommen ist – ich will ihn nicht mal sehen.«
Sheemie steckte das Tuch wieder in die Tasche.
»Leck sie«, sagte Depape mit derselben geduldigen Stimme. »Das ist es, was ich will. Du leckst meine Stiefel, bis sie wieder trocken sind, und so sauber, dass sich dein dummes Kaninchengesicht darin spiegelt.«
Sheemie zögerte, als wäre er sich immer noch nicht ganz sicher, was von ihm erwartet wurde. Vielleicht musste er auch nur das Gesagte gründlich verarbeiten.
»Ich würde es machen, Junge«, sagte Barkie Callahan von seinem, wie er hoffte, sicheren Platz hinter Shebs Klavier. »Wenn du die Sonne noch einmal aufgehen sehen möchtest, würde ich es auf jeden Fall tun.«
Depape hatte bereits beschlossen, dass der Matschkopf keinen Sonnenaufgang mehr sehen würde, jedenfalls nicht in dieser Welt, hielt aber den Mund. Noch nie hatte ihm jemand die Stiefel geleckt. Er wollte wissen, wie man sich dabei fühlte. Wenn es schön war – irgendwie sexy –, konnte er ja vielleicht auch Ihre Hochtrabendheit dazu bewegen.
»Muss ich?« Tränen traten Sheemie in die Augen. »Kann ich nicht nur tut mir Leid und sie richtig toll polieren?«
»Leck, du schwachsinniger Esel«, sagte Depape.
Sheemie fiel das Haar in die Stirn. Er streckte zaghaft die Zunge zwischen den Lippen hervor, und als er den Kopf über Depapes Stiefel beugte, fiel die erste seiner Tränen hinunter.
»Aufhören, aufhören, aufhören«, sagte auf einmal jemand. Die Stimme erklang in dieser Stille wie ein Schock – nicht, weil sie so plötzlich ertönte, und bestimmt auch nicht, weil sie wütend war. Sie kam wie ein Schock, weil sie so amüsiert klang. »Ich werde das einfach nicht zulassen. Auf keinen Fall. Ich würde so was zwar gern mal sehen, allein es geht nicht. Unhygienisch, versteht ihr? Wer weiß schon, welche Krankheiten auf diesem Wege übertragen werden könnten. Der Verstand sträubt sich. Sträubt sich absolut!«
Der Überbringer dieser idiotischen und potenziell fatalen Worte stand unmittelbar zwischen den Flügeln der Schwingtür: ein junger Mann mittlerer Größe, der seinen flachen Hut zurückgeschoben hatte, sodass ihm eine braune Locke wie ein schiefes Komma auf der Stirn prangte. Aber junger Mann wurde ihm nicht gerecht, stellte Depape fest; junger Mann dehnte den Begriff schon beträchtlich. Er war noch ein Kind. Um den Hals trug er, die Götter wussten warum, einen Vogelschädel wie einen riesigen komischen Anhänger. Der Schädel hing an einer Kette durch die Augenlöcher. Und in den Händen hielt der Junge nicht etwa ein Schießeisen (woher hätte ein Bengel wie er, der noch kein Haar auf den Wangen hatte, auch ein Schießeisen bekommen sollen?, fragte sich Depape), sondern eine verdammte Steinschleuder. Depape prustete vor Lachen.
Der Junge lachte ebenfalls und nickte, so als würde er gut verstehen, wie lächerlich die ganze Sache aussah, wie lächerlich die ganze Sache war. Sein Lachen wirkte ansteckend; Pettie, die nach wie vor auf ihrem Hocker stand, kicherte selbst, bevor sie dann schnell die Hände vor den Mund schlug.
»Das hier ist kein Platz für einen Knaben wie dich«, sagte Depape. Seinen Revolver, eine alte fünfschüssige Waffe, hatte er immer noch gezückt; er hielt ihn in der Hand, die immer noch auf dem Tresen ruhte, und Stanley Ruiz’ Blut tropfte vom Lauf. Depape winkte verhalten damit, ohne die Hand vom Eisenholztresen zu nehmen. »Jungs, die in solche Lokale kommen, lernen nur schlechte Gewohnheiten, Kind. Sterben gehört auch dazu. Darum gebe ich dir diese eine Chance. Raus hier.«
»Danke, Sir, ich weiß die eine Chance zu schätzen«, sagte der Junge. Er sagte es mit großer und einnehmender Aufrichtigkeit…
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