Der eiserne Gustav
Jawohl, einige Wurzeln waren abgerissen worden – es tat Otto noch weh, wenn er an den zornigen, unbegreiflich hartnäckigen Vater dachte. Oder auch an die Mutter, die in einem überfüllten, lärmenden Haus sich nach dem großen, sauberen Fuhrhof zurücksehnte.
Jawohl, diese Wurzeln waren abgerissen, diese Erinnerungen schmerzten. Aber im ganzen gedieh der Baum jetzt, im Schatten des alten Vaterbaumes hatte er nicht Licht genug gehabt. Nun trieb er in die Breite. Oft wunderte sich Tutti, mit welcher Sicherheit dieser früher schwache Mensch durchs Leben ging, Entscheidungen traf, mit Mitmenschen redete. Er ist ganz anders geworden, dachte sie. Sie dachte es fast beglückt.
Sie war glücklich – fast ganz. Nur manchmal kam ein Zögern in sie, eine scheue Ängstlichkeit; einmal hatte sie den Mut, im Einschlafdunkel zu sagen: »Früher habe ich dir soviel helfen und abnehmen können. Was kann ich jetzt noch für dich sein …?«
Er schwieg lange. Er wußte, jetzt dachte sie an ihren mißgestaltetenLeib, das kleine Gesicht mit den scharfen Zügen. Nach einer Weile nahm er ihre Hand und sagte: »Wenn wir im Schützengraben ›Heimat‹ sagten, habe ich immer an dich gedacht.«
Sie antwortete nichts, aber ihr Herz, ihr armes, krankes Herz klopfte immer schneller. Es trommelte einen seligen Glückswirbel.
Er sagte noch: »Bei der Heimat fragt man nicht, was sie ist oder gibt – die Heimat ist die Heimat.«
Sie hätte bitten mögen: Sprich nicht weiter – soviel Glück ertrage ich nicht! Sie hätte flehen können: Rede doch! Warum schweigst du schon? Rede immer weiter – ich bin noch nie so glücklich gewesen!
Aber sie schwieg, wie er schwieg. Die Stunde rauschte vorbei, aber nicht mit ihr, was sie fühlten.
Einmal besuchte die beiden, die drei – denn Gustäving war unzertrennlich von seinem Vater –, auch Bruder Heinz, Bubi genannt. Aber dieser Name paßte ihm nicht mehr recht. Heinz war unglaublich aufgeschossen in den beiden Jahren, die Otto ihn nicht gesehen hatte, seine Gliedmaßen waren viel zu lang und schlenkrig, sein Gesicht war bleich, weit sprang die höckrige Nase daraus hervor, und er sprach mit einem lächerlich tiefen Baß.
Mit dieser Baßstimme aus dem tiefsten Keller begrüßte er Bruder und neugewonnene Schwägerin. Die Mutter hatte ihn unterrichtet. »Na, du Vaterlandsverteidiger?« brummte er. »Unteroffizier und Inhaber des E. K. zweiter! Wann kriegst du denn das erster?«
»Wahrscheinlich gar nicht«, lächelte Otto.
»Es ist ’ne Schande! Auf der Penne sehen sie einen schon gar nicht mehr an. Zwei Brüder, und keiner mit dem E. K. erster! Na, nimm’s bloß nicht übel, Otto. Ich habe nur einen Witz gemacht. – Und du bist also mein Neffe Gustav?«
Seine Verlegenheit zu bemänteln, legte er dem Kinde die Hand salbungsvoll auf das Haupt und betrachtete es von seiner enormen Höhe wie eine schwer erkennbare Ameise.
»Bleich und dünngliedrig«, entschied er. »Ja, ja, geliebter Bruder, der Krieg tötet die Starken und läßt die Minderwertigen am Leben. – Ich sage das natürlich ganz unpersönlich, du verstehst?«
Otto nickte vergnügt.
»Wir haben uns darum auf der Penne entschlossen, den Krieg zu ächten. Wir haben den Krieg in Acht und Bann getan, weil er eine falsche Auslese trifft. – Was meinst du dazu …?«
»Oller Schafskopp!« antwortete Otto zärtlich.
»Wieso? Was heißt hier Schafskopf? Unser Entschluß tritt natürlich erst in Kraft, wenn ihr diesen Krieg gewonnen habt. Das ist selbstverständlich. Es wird durchgehalten.« Und sofort wieder gönnerhaft: »Wie klappt denn der Laden da im Westen? Bißchen dicke Luft, was? Kann ich mir lebhaft vorstellen!«
»Es geht so«, meinte Otto grinsend. »Wir warten bloß noch auf deine Hilfe.«
»Red doch nicht! Der Krieg geht in diesem Winter noch zu Ende! Bestimmt, Otto, kannste mir glauben! Ich weiß es von einem, der hat geheime Beziehungen zum Stabe Hindenburg. Rüstiger Knabe, was?«
»Höre einmal«, sagte Otto, nachdem er dem Bruder bestätigt hatte, daß Hindenburg ein rüstiger Knabe sei und im allgemeinen seine Sache verstehe. »Höre einmal: Habt ihr da bei euch was in der letzten Zeit von Eva gesehen oder gehört?«
»Eva?« Heinzens Gesicht verfinsterte sich, er wurde wortkarg: »Nein. Nichts.«
»Weißt du was von ihr? Mach kein Gesicht, Bubi! Wir sind hier ihretwegen etwas unruhig. Es würde uns vielleicht helfen, wenn du uns erzählst, was du weißt.«
»Ich weiß nur, daß Vater mit ihr
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