Der eiserne Gustav
Gegensätze, es gab so viele Unterschiede. Es gab Adel und Bürgertum und Arbeiterschaft, es gab Konservativ und Sozi, es gab Arm und Reich, es gab Frontkämpfer und Etappe und Hinterland. Und nun gab es zu allen anderen noch Kartenempfänger und Selbstversorger.
Der Begriff Selbstversorger war in den Ohren der Kartenempfänger zu einer ungeheuerlichen Beschimpfung geworden. Es gab Leute, die hatten noch und noch zu fressen, Fett und Brot und Kartoffeln. Und sie fraßen. Sie schlachteten Schweine, sie schlachteten Kälber und Schafe, gutes reines Brot buken sie aus gutem sauberem Mehl – und sie ließendie anderen hungern! Sie ließen Frauen hungern, sie ließen Kinder hungern. Sie schlugen die Tür zu und sagten nein, sie beschimpften die anderen noch mit dem Worte »Hungervolk« für das, was sie ihnen vorenthielten. Es war eine verfluchte Zeit, verdammt noch mal, im Schützengraben war es sauberer. Wer da kein anständiger Kamerad war, der mußte sehen, es rasch zu werden, oder er ging zugrunde.
Jawohl, manche sagten auch entschuldigend: »Wir können nicht alles geben. Heute waren schon zehn da!« Das sah Otto ein. Aber er war heute an vierzig, fünfzig Stellen gewesen, und er hatte nur nein gehört, er hatte nicht ein Ei, keinen Schluck Milch bekommen – und der Junge zu Haus wartete mit Hunger auf das Mitgebrachte.
Gertrud Hackendahl sah ihren Mann immer finsterer und wortkarger werden. Sie empfand ja die gleiche Erbitterung wie er, und ihre Sorge um den mangelhaft ernährten Jungen war mindestens die gleiche. Aber sie dachte: Die Leute sind eben so, oder: Ein Reicher hilft nie gerne einem Armen. Dies waren für sie Naturgesetze, die man hinnehmen mußte, Otto aber zweifelte an der Welt, ihrer Ordnung, sich selbst.
In den Zügen, wenn sie heimfuhren, saß er stumm bei den Erfolgreicheren, die den großen Wagen vierter Klasse mit ihren Zentnersäcken voller Kartoffeln ausfüllten, die schwere Handkoffer, geheimnisvoll geschwollene Rucksäcke trugen. Er saß stumm in ihrer Nähe, er qualmte den stinkenden Tabak, der mit Kirsch-oder Brombeerblättern versetzt war, und lauschte auf ihre Reden …
Hatte er einen Ortsnamen aufgeschnappt, sagte er abends: »Morgen fahren wir dorthin.«
»Ach, Otto, schon wieder! Es hat doch keinen Zweck. Wir verfahren unser ganzes Geld.«
Er blieb hartnäckig. »Wir haben auch einmal Glück, verlaß dich darauf, Tutti. Morgen fahren wir.«
Sie fuhren, und sie hatten wirklich Glück. Sie bekamen zwanzig Eier, ein Brot, ein halbes Pfund Butter …
Otto lachte, als sie gemeinsam nebeneinander zur Bahnmarschierten. »Siehst du, alle sind doch nicht so. Man muß bloß nicht den Glauben verlieren!«
Dieses Mal saß er auf der Rückfahrt neben ihr. Andere mochten haben, was sie wollten, er war neidlos glücklich. Die praktischere Frau dachte, daß es schön war, dem Jungen Eier und Butter zu bringen, daß es aber doch nicht lohnte … Es hielt nicht vor, es war nichts, ein Tropfen auf einen heißen Stein, aber sie verlor einen ganzen Arbeitstag darüber … Doch in solchen Dingen war ein Mann wie ein Kind. Nun, jedenfalls hatten sie dieses Mal Brot, Butter, Eier …
Sie hatten sie nicht.
Als sie auf dem Alexanderplatz vom Bahnsteig wollten, war alles mit Polizei besetzt: Großsuchaktion gegen Hamsterer. Niemand kam unangefochten durch, jeder Handkoffer mußte geöffnet, jeder Sack aufgeschnürt werden – und alle Lebensmittel wurden beschlagnahmt!
Oh, was waren die Gesichter finster und drohend! Den Polizisten war selber nicht wohl bei ihrer Tätigkeit. Sie hatten ja auch Kinder zu Hause, die hungerten, sie wußten, wie den Leuten zumute war. Sie sagten nur das Nötigste, sie hörten nichts, was sie nicht hören mußten. Ein verfluchtes Geschäft!
Eine Frau schrie: »Unseren Kindern stehlt ihr’s, und eure Kinder mästet ihr damit, Speckjäger verdammte!«
Sie hörten nichts.
Gertrud hatte sich an den Arm ihres Mannes gehängt, oh, wie grauenvoll finster sah er aus! Er sah aus, als könnte er einen Mord begehen, einen Mord um zwanzig Eier und ein Stück Butter! Fieberhaft streichelte sie seine Hand: »Bitte, Otto, bitte, lieber Otto – mach mich nicht unglücklich!«
Sie sprach nicht von ihm, sie sprach von sich, jetzt durfte er nur an sie denken – um gerettet zu werden.
Er sah einmal hin zu ihr. »Wir gehen grade durch«, sagte er dann. »Ich will doch einmal sehen, ob sie einen Frontsoldaten …«
Doch, er sah, sie taten es, sie hielten ihn an.
»Machen Sie bitte
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