Der eiserne Gustav
haben!«
»Ist mir alles egal!« Sie verleugnete trotzig ihre gemeinschaftlichen Erkenntnisse. »Ich liebe dich, und da küß ich dich eben.«
»Na, Irma, sag mal, fand’ste den eben schön, den Kuß?«
»I wo! Gräßlich war er! Aber wenn man sich liebt, küßt man sich eben. Das ist so. Vielleicht muß man es lernen?«
»Dann lerne ich es nie.«
»Ich hatte auch schreckliche Angst«, gestand sie schamlos. »Sieh mich mal an, Heinz. Wie sehe ich aus?«
»Wie sollst du denn aussehen?«
»Ich meine, ob man mir was ansieht von dem Kuß?«
»Dir? Keine Spur!«
»Ich habe keine Flecken? Bin nicht besonders rot?«
»Gelb biste, wie ’ne Zitrone!«
»Dann versuchen wir es noch mal!« entschied sie mit unbeugsamer Energie.
»Ich bitte dich, Irma, laß doch den Blödsinn!« Der lange Bengel war grenzenlos verlegen.
»Bitte, Heinz! Nur noch einmal! Ich verspreche dir, nur noch dieses einzige Mal! Mach wieder die Augen zu! Ich schäme mich ja doch, aber ich schäme mich nicht vor dir … Und bück dich ein bißchen, sonst treff ich wieder bloß dein Kinn …«
»Irma …«, protestierte er schwach.
Dann berührte etwas wie ein Hauch seine Lippen … Es blühte auf, wurde weich. Er hätte nie gedacht, daß die dünnenLippen seiner kleinen Freundin so weich und warm sein könnten. Um seinen Hals lagen ihre Arme, und auch diese Arme, Arme, die er doch kannte. Arme wie Stecken, lagen weich und schwer um ihn. In seinen Ohren fing das Blut an zu singen, eine süße, zauberhafte Melodie … Zum ersten Male hörte sein Ohr diesen Klang, und ein langes Leben hindurch würde es immer begierig sein, ihm zu lauschen …
Es ist ganz still … Dann räuspert sich Irma …
»Ich glaub, Heinz, sie schießen nicht mehr …«
»Nee, glaub ich auch, höre nichts mehr …«
Sie waren grenzenlos verlegen, sahen sich nicht an. Wieder einmal hatten Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen – und sie schämten sich, da sie erkannten, daß sie nackt waren …
»Bis sieben ist noch aasig Zeit …«
»Ja, was meinst du, sehen wir mal nach Tutti …?«
»O wie so richtig! Das schaffen wir grade noch.«
Sie liefen los, zurück in das Stadtinnere, nebeneinander. Beide dürr, schlecht gekleidet, unterernährt und mäßig gewaschen – aber in beiden brannte der Lebensfunke. Oh, heute leuchtete er ihnen schon fast aus den Augen!
7
Bei Gertrud Hackendahl, die von allen, die sie wirklich kennen (aber das sind nur wenige), Tutti genannt wird, sitzt Eva Hackendahl. Tutti läßt ihre Maschine sausen und hört dabei mit halbem Ohr, mit abweisendem Gesicht auf das, was Eva ihr von den Vorgängen in der Stadt erzählt …
Gertrud Hackendahl hat diese Besuche der Schwägerin nicht sehr gern. Gustäving muß dann stets sofort in das Zimmer gehen, er darf nie die Tante küssen. Eva ist in den letzten zwei Jahren nun das geworden, was sie ohne eigene Kraft und ohne eigenen Mut werden mußte: ein Straßenmädchen. Das ist schon ein Grund, warum Tutti die Schwägerin nicht mag:Eine Frau, der die Liebe heilig ist, wird stets der grollen, die aus den Liebesäußerungen ein Gewerbe macht …
Und doch läßt Tutti Hackendahl immer noch die Schwägerin in die Wohnung, erträgt sie, duldet sie, läßt sie sich aussprechen … Weil nämlich Gertrud Hackendahl versteht, daß jeder Mensch im Elend eine Insel haben muß, zu der er fliehen kann aus der Trostlosigkeit des Alltags, daß er eine Stätte der Geduld wissen muß, etwas wie eine Heimat …
Sie ist solche Heimat für Eva, irgendein Bindeglied zu jener Eva, die ehemals war. Hier kann sie sitzen und reden und denken, sie gehört noch dazu …
Die kleine, verkrüppelte Tutti Hackendahl versteht das sehr gut; sie hat ja selbst solche Insel, solche Heimat …
Sie sieht nach der Kommode hinüber – dort ist auf einer Spitzendecke alles aufgebaut, was an Otto Hackendahl erinnert: ein paar Bilder; die Tasche mit ihren Briefen, die sie ihr damals aus dem Felde geschickt haben (die Flecken darauf sind nun schon lange schwarz geworden); alles, was sie von seinen Schnitzereien hat auftreiben können; in einem Kästchen seine Messer, seine Raspeln, die kleine Säge, ein Stück Lindenholz, in dem verborgen der Christus steckt, an den er zuletzt gedacht hat. Daneben, was ihr der Schwager Heinz gebracht hat: seine Schulzeugnisse, ein paar Hefte, ein zerlesenes Erdkundebuch.
Sein zweiter Sohn, der nachgeborene Otto, ist noch zu klein. Aber dem anderen Sohn, dem jetzt sechsjährigen Gustäving, zeigt
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