Der eiserne Gustav
Verwehen alles Irdischen, die Schalheit aller Lust …
Wissen sie denn gar nicht, daß sie so lächeln? Sie stehen viel zu nahe, ein Körper drängt an den anderen, Brust drückt sich gegen Brust. Sie halten sich nicht mehr in den Armen, sie pressen sich aneinander … Nein, ich will das nicht sehen! Wir haben alle unsere Kindheitsparadiese gehabt, wir haben aus ihnen hinausgemußt, denn der Mensch lebt nicht im Paradies, er will es gar nicht, der Mensch will beim Menschen arbeiten!
Aber wenn wir die Paradiese nicht mehr haben, müssen wir darum so tief hinunter? Ich will das nicht – geh weg, du! Ich habe dich nicht gemocht, von Anfang an, obwohl du einen glatten, dunklen Madonnenscheitel trugst – ich wußte, du warst schlecht! Du sollst sie nicht so umfassen, du sollst sie nicht so mit deinem Mund bedrängen. – Erich, es ist deine Geliebte, sage ihr, sie soll es nicht. Sage du es ihr, ich kann es nicht, ich bin wie gelähmt!
In diesem Augenblick wirft Erich, als sei er angerufen worden durch den Bruder, den Kopf herum, er ruft: »Nun, Bubi, wie gefällt dir das? Ist das schön …?! Haben wir dir zuviel versprochen, wie?!«
Und er sieht triumphierend, höhnisch auf den Bruder.
Heinz steht auf, er will dem Bruder antworten, nein, er will fort – und kann doch nicht das Auge von ihr wenden, die langsam, o so langsam auf ihn zukommt …
Nein, ich will doch fort … Ich muß weg … Ich …
»Bubi«, sagt sie leise, und leise legt sie die Hand auf seine Schulter.
Und unter ihrer leichten Hand bricht er zusammen, als habe ihn eine Faust niedergeschlagen, die Faust seines Schicksals. Er liegt vor ihr auf den Knien, ihre Hand spielt in seinem Haar, ihr Leib ist vor ihm. Er preßt sein Gesicht gegen ihn, er stöhnt auf vor Wollust und Verzweiflung, er riecht den Ruch von Leben und Vergänglichkeit …
Und hört ein Lachen …
Lacht denn so die Geige? Kann eine Geige einen Menschen so verlachen?
Es ist ja hell geworden – alle Lichter brennen auf der Diele –, und da kniet er, Heinz Hackendahl, siebzehnjährig, vor einer französischen Hure und küßt ihren nackten Leib, als sei er ein heiliges Tabernakel! Und in der Tür stehen Bruder und das verdammte Tanzweib und lachen über ihn, lachen ihn aus, lachen seine Qual aus, seine Unschuld aus, sein ganzes Leben aus …
»Köstlich, Tinette«, schreit Erich. »Hast du ihn kirre?! Laß dir die Füße küssen – ach, ich möchte noch sehen, wie er dir die Füße ableckt …«
Tinette stößt nur einen kleinen Schrei aus, als sie zurückgestoßen wird und fällt. Heinz ist schon weiter, er ist bei dem Bruder, taumelt über ihn, sie stürzen beide. Aber er hält ihn, Schlag für Schlag führt er in das verliederte, hübsche, schamlos freche Gesicht …
Und fühlt, während er ihn schlägt, daß man so nur den Bruder schlagen kann, hassen kann, und er schlägt ihn um dessentwillen, was er auch in sich selbst haßt: um seiner eigenen Weichheit willen, um seiner eigenen Genußsucht willen, um seiner eigenen Feigheit willen …
Es ist ein Taumel, mit seinen Schlägen möchte er die ganze Vergangenheit erschlagen, er möchte sich wieder sauber schlagen, wie Silber durch Schlagen gereinigt wird … Kaum fühlt er, daß die Weiber an ihm zerren und reißen … Erst als der Taumel vorüber ist, steht er auf … geht, ohne auf etwas zu achten, ohne zurückzuschauen, aus der Diele …
Langsam zieht er im Vorraum den Mantel an, den schönen, vom Gelde des Bruders gekauften Schneidermantel. Er bindet den Schlips besser, setzt den Hut auf … Aus dem Spiegel sieht ihn sein bleiches Gesicht an, mit starren Augen … Er versucht ein Lächeln, aber es gelingt nicht …
Seine Hand tastet zum Schalter, das Licht erlischt und mit ihm das bleiche Gesicht im Spiegel. Dann nimmt er die Sicherheitsketteab, schließt die Tür auf und tritt hinaus in die frostkalte, froststarre Januarnacht.
Er macht ein paar Schritte, aber als er auf der Straße ist, bleibt er noch einmal stehen. Noch einmal sieht er zurück auf das Haus. Da liegt es, hier und dort erhellt, ein stattlicher Bau von schönen Linien, einem gewissen schlichten Reichtum …
Dort ist er zu Gast gewesen, viele Wochen lang, Wochen der Qual. Zu Gast …? Ein Gefangener ist er dort gewesen! Und er weiß mit völliger Sicherheit, daß er dorthin nicht wieder zurückkehren wird. Wohin ihn sein Lebensweg auch führen mag, kaum wird er wieder in die Villen der Reichen gehen, zum satten, geilen Genießen … Der Ausbruch war
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