Der eiserne Gustav
er ihn wieder einmal bei den Geschichtszahlen habe steckenlassen, statt ihm vorzusagen. »Und wenn du alter Schweinehund dies so weitertreibst, wirst du noch erleben, daß ich dir und der ganzen Prima zur Schande im Abitur durchrassele. Dann bleibt dir nur die allgemeine Verachtung, der aus öffentlichen Mitteln gespendete Strick und der blaue Blick zum Mauerhaken!«
»Sei er noch so dick, einmal reißt der Strick!« flüsterte Porzig mit seinem scheelen Schurkenblick die Anfangszeilen eines Wedekindschen Stammbuchverses.
»Freilich soll das noch nicht heißen, daß gleich alle Stricke reißen!« sangen ein paar geheimnisvolle Nornen.
Und alle zusammen im Chor, mit den Füßen scharrend, mit den Pultdeckeln klappernd: »Ganz im Gegenteil – mancher Strick bleibt heil!«
»Seid ihr des Teufels, Primaner??!« schrie Professor Degener gewaltig, in das Zimmer fahrend wie ein flammender Feuerwisch. »Die ganze Prima wird heute mittag zur Andacht hinter der Sexta antreten – denn ihr seid kindlicher als diese milchfrischen Buben! – Hackendahl, was grinsen Sie? Ein Idiot grinst, ein Mensch lacht! Alles setzen! Häberlein, versuchen Sie, uns zu erklären, warum Piaton …«
Ja, Heinz Hackendahl war heimgekehrt. Wieder trug er den alten Schüleranzug, den blank geriebenen, vielfach geflickten, den viel zu kurzen. Wieder trug er die häßliche, graue Kriegsunterwäsche statt schön geschneiderter Oberhemden. Er vergaß völlig die Benutzung des Manikürkastens, wenn er vielleicht auch seine Fingernägel etwas häufiger schnitt, sauberer bürstete als »vor der Zeit«.
Er hatte gefürchtet, daß seine Klassenkameraden einige satirische Anmerkungen über die Rückverwandlung des schimmernden Schmetterlings in eine graue Puppe machen würden. Aber mit dem ungeheuren Feingefühl, das die taktloseste Gesellschaft von der Welt, Bengels in den Flegeljahren, nun einmalhat, sagte keiner ein Wort darüber. Er gehörte wieder ganz zu ihnen. Er war einer der Ihren. Sie schienen völlig vergessen zu haben, daß er bei einer ihnen immerhin sehr wichtigen Tätigkeit, beim Waffensammeln, nicht mitgemacht hatte. Als sei er nie fort gewesen, nahm er an ihren hitzigen Debatten teil, wurde angehört, ausgelacht, beschimpft, ganz wie alle anderen.
Sie hatten sehr viele Debatten, täglich, fast in jeder Pause – und sehr hitzige. In Weimar war nun die Nationalversammlung zusammengetreten, sie hatten Fritz Ebert zum Reichspräsidenten gemacht und Schwarzrotgold zu den Farben der neuen deutschen Republik. Aber das waren vergleichsweise Belanglosigkeiten, so heftig man darüber streiten konnte.
Für sie war die Hauptfrage: Wie wird der Krieg zu Ende gehen? Wie wird der Friede aussehen? Das war die Frage, die sie bewegte. Es wurde so vielerlei in der Nationalversammlung geredet, aber über den Frieden wurde recht wenig gesprochen. Gewiß, sie sagten, einen Gewaltfrieden werde das deutsche Volk nie annehmen; es gab auch einen Abgeordneten, der sagte, die Hand solle verdorren, die einen Sklavenfrieden unterschreibe …
Aber auch die seltenen starken Töne aus Weimar wurden von den Jungen mit Mißtrauen aufgenommen. Sie hatten den lateinischen Satz gelernt: Principiis obsta, was zu deutsch heißt: Schon im Anfang widersteh! Und sie fanden, daß schon im Anfang kein Widerstand geleistet wurde. Sie fanden, daß die Regierung ständig protestierte, aber ihren eigenen Protesten zum Trotz stets tat, was sie eben noch für unmöglich erklärt hatte. Die Jungen hörten wohl das Nein, aber sie waren ungläubig, wie das ganze Volk ungläubig geworden war. – »Denen trauen wir noch lange nicht«, sagten sie. »Wir sind in den letzten vier Jahren viel zu oft von denen oben belogen.«
Über all diese Dinge redeten die Bengels, in den Schulpausen, auf den Wegen von und zur Penne. Sie redeten in ihrer Schülersprache davon, ihre Sätze waren mit Latinismen gespickt und auch im Gebrauch von Ausdrücken wie »kolossal« oder »fein mit Ei« waren sie nicht schüchtern. Siehatten rauhe Stimmen, am Kinn hingen ihnen oft fliegende Haare – wäre der Krieg weitergegangen, so hätten sie jetzt schon im Felde gestanden. Nun waren sie bloß Jungen, Schüler, aber ihre Anteilnahme war darum nicht geringer.
Zehn Jahre früher, die Generation hatte sich an Hofmannsthals Versen gelabt, sie hatte die Rosenlieder Eulenburgs verspottet und sich allenfalls ein ganz klein wenig über die Frage: Luftschiff oder Flugzeug erhitzt. Aber sehr mit Maßen. Aber recht
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