Der eiserne Gustav
moderiert. Ein fett gefüttertes, ästhetisierendes Geschlecht mit einer koketten Neigung für Selbstmord und Schönheit. (Schon das Wort Selbstmord war ihnen zu kräftig gewesen, sie hatten dafür »Freitod« gesagt.) Dieses neue, in Notjahren aufgewachsene Hungergeschlecht war etwas kräftiger geraten. Es erwies sich die Wahrheit des Satzes, daß Früchte von armen Böden gesünder sind als von fetten. Diese neue Jugend, die den Krieg nur im Binnenlande erlebt hatte, fühlte sich stets um irgend etwas in ihrem Leben betrogen. Sie war nicht gesonnen, sich weiterhin betrügen zu lassen. Mit wachen Sinnen, mit einem nie einschlafenden Mißtrauen verfolgte sie alle Ereignisse …
Heinz Hackendahl reihte sich ein. Er war zu seinen Kameraden, in seine Generation zurückgekehrt. (Erich, obwohl bloß vier Jahre älter, war entschieden Vorkriegsgeneration.) Schon nach ganz kurzer Zeit fand er es direkt sagenhaft, daß er alle Tage eine ganze Stunde der Pflege seiner Fingernägel gewidmet hatte. Es dauerte nicht lange, so fühlte er wieder die alte kräftige Abneigung der Jugend gegen die bemalten Frauensleute der Tauentzienstraße. Sein Herz stockte kaum noch eine Sekunde, wenn er an Tinette dachte. Dafür dachte er manchmal und sehr lange an Irma.
14
Professor Degener hatte auch darin einigen Scharfblick bewiesen, als er Heinz Hackendahl nur um Geduld gebetenhatte, in Kürze werde er kaum um Aufgaben verlegen sein. Es stimmte – an Aufgaben war in dieser Zeit kein Mangel.
Heinz Hackendahl übernahm die seine.
An einem Morgen Ausgang Februar wachte er von einem hartnäckigen Geklingel auf. Aus irgendeinem Grunde war schulfrei – wahrscheinlich, weil wieder gestreikt wurde. Oder protestiert. Jedenfalls lag er noch im Bett, der Vater war auf Fuhre fort, und die Mutter verschlimmerte gerade wieder ihre geschwollenen Beine vor irgendeinem Lebensmittelladen.
Heinz fuhr in die Hosen, zog seinen Mantel über das Nachthemd und schlurfte auf Pantoffeln durch die grabeskalte Wohnung zur Tür. Vor der Tür stand ein Frauenzimmer, unzweifelhaft ein Frauenzimmer – er mußte erst genauer hinsehen, ehe er erkannte, daß dies seine Schwester Eva war, die früher so hübsche, frische, ein wenig streitsüchtige Eva. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkennend: »Du, Eva? Komm rein!« sagte.
Auch sie hatte ihn nicht gleich erkannt. Aber das lag nicht so sehr daran, daß er sich verändert hatte, als daß sie sehr aufgeregt war und dazu noch ziemlich betrunken. Sie lehnte am Türpfosten, ihr blasses, fett gewordenes Gesicht zitterte, auch ihre schweren, bläulichgrauen Augenlider zitterten.
»Wo ist Mutter?« fragte sie. »Ich muß gleich Mutter sprechen!«
»Mutter ist einholen. Komm doch rein, Eva!«
Er führte sie am Arm in das Schlafzimmer der Eltern, den einzigen Raum, der eine Spur von Wärme hatte. Sie setzte sich auf das Bett, sah um sich …
»Wo ist Mutter?« fragte sie wieder angstvoll. »Ich muß Mutter gleich sprechen …«
»Mutter ist einholen gegangen«, erklärte er wieder und beobachtete sie aufmerksam. »Kann ich dir was helfen, Eva?«
Sie schien kaum darauf zu achten, was er sagte; es drang nicht in sie. Sicher war sie betrunken, aber noch stärker war sie erregt; die Trunkenheit ging unter in dieser Erregung, vermischte sich mit ihr …
Leise sagte sie vor sich hin: »Was soll ich nur tun? Was soll ich tun?«
Einen Augenblick legte sie den Kopf auf das Kissen im Bett, schloß die Augen, als wollte sie in äußerster Erschöpfung sofort einschlafen …
Aber gleich fuhr sie wieder hoch. Sie stand auf vom Bett, ohne Bubi zu beachten, ging durchs Zimmer, blieb vor dem Vertiko stehen, als sei sie ganz allein, und zog die obere Schublade auf. Sie nahm etwas von den Papieren, die dort lagen, heraus, hielt sie in der Hand, starrte auf sie, als suche sie zu erraten, was sie wohl bedeuteten …
»Eva!« rief Heinz vom Ofen her. »Eva!«
Sie fuhr herum. Die Papiere in der Hand starrte sie ihn an. »Du, Bubi??« fragte sie. »Was ist denn? Ich wollte doch Mutter sprechen …«
»Mutter ist einholen, Eva«, sagte er zum dritten Male. Er ging zu ihr, nahm ihr sanft die Papiere aus der Hand, legte sie zurück und sagte: »Erzähl mir doch, was du von Mutter willst. Vielleicht kann ich dir auch helfen?«
»Was soll ich nur tun?« fragte sie wieder verzweifelt. Sie starrte ihn an, aber ihr Gesicht veränderte sich dabei nicht; trotzdem sie traurig sein mußte, trat in ihr trockenes, brennendes Auge keine Träne.
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