Der eiserne Gustav
Schließlich: »Ich muß fort …«
»Wohin denn, Eva?«
»Weg von Berlin!«
»Warum mußt du weg von Berlin?«
Sie starrte ihn an. Jetzt trat in ihr Auge etwas wie Entsetzen …
»Warum?« flüsterte sie. Und schwieg.
»Komm, Eva«, sagte er sanft, nahm ihre Hand und führte sie zum Bett zurück. »Komm, leg dich. Warte, ich ziehe dir die Schuhe aus. Du bist ja eiskalt. So – und nun die Decke – ist es so gut?«
Sie ließ alles ruhig mit sich geschehen, aber sie gab kein Zeichen, ob es gut sei.
Wieder nahm er ihre Hand. »Und nun sage mir, warum du von Berlin fort mußt.«
Sie antwortete nicht. Aber ein anderer Ausdruck trat in ihre Augen, sie sah sich um wie ein Kind, das in einer fremden Umgebung erwacht und sich neugierig alles anschaut.
»Was ist das?« fragte sie. »Liege ich in Mutters Bett?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ist das Vaters Bett?«
Er nickte.
Sie lachte. Plötzlich lachte sie, sie lachte krampfhaft. Es war nicht anders, als schüttele ein Schluchzen sie.
»Da!« sagte sie und zeigte mit dem Finger. »Da drin bin ich geboren! Vor dreiundzwanzig Jahren! Und jetzt liege ich in Vaters Bett.« Es schüttelte sie wieder. »Vater wird sich freuen, daß ’ne Hure in seinem Bett liegt …«
Ebenso plötzlich, wie das Lachen begonnen hatte, brach es wieder ab. Sie machte ihre Handtasche auf, suchte darin. Hausschlüssel, Puderdose, Kleingeld fielen über die Bettkante – sie achtete nicht darauf. Sie reichte ihm einen Zettel. »Da lies mal …«, sagte sie.
Es war eine aus einem Schulheft gefetzte Seite. Er las, in ungelenker steiler Kinderschrift: »Der Tannenbaum. Der Tannenbaum wächst im Walde. Er ist unser deutscher Christbaum. Kein Volk feiert das Weihnachtsfest so schön wie das deutsche. Der Tannenbaum …«
»Verstehst du das?« flüsterte sie und wandte den Blick nicht von seinem Gesicht. Dann ungeduldig: »Die andere Seite doch!«
Er drehte das Blatt um. Auf der anderen Seite stand grob, quer über die Zeilen geschmiert: »Nutte! Du hast mich totgeschossen, aber ich kriege dich doch!«
Sonst nichts.
Er sah zu ihr.
»Verstehst du das?« flüsterte sie wieder, und ihre Lippen zitterten.
»Nein«, sagte er. »Wer hat das geschrieben?«
Sie sah ihn an. Schließlich, nach sehr langer Zeit, sagte sie ganz leise: »Er.«
Es war, als habe sie Angst, schon dieses Wort »Er« zu flüstern.
»Ist das der, von dem ich bei Tutti gehört habe?«
Sie nickte.
»Und? Was soll der Quatsch bedeuten? Eva, du wirst dich doch nicht von einem solchen Unsinn ängstigen lassen?!«
»Es ist kein Unsinn!«
»Natürlich ist es Unsinn! Es …« Er unterbrach sich. Er sah, daß sie mit einem Entschluß kämpfte.
Schließlich sagte sie leise: »Aber ich habe ihn totgeschossen! Grade ins Gesicht hinein habe ich ihn geschossen. Ich stand direkt vor ihm …«
»Aber Eva! Wenn du ihn totgeschossen hast, kann er dir nicht schreiben. Und hast du ihn nicht totgeschossen, ist es Unsinn von ihm, dich mit seinem Tod zu ängstigen. – Wenn du überhaupt geschossen hast, hast du vorbeigeschossen.«
»Ich habe ihn totgeschossen! Ich habe das Feuer direkt in seinem Gesicht gesehen.«
»Es ist unmöglich, Eva …«
»Bei ihm ist nichts unmöglich!«
Wieder dachte er nach. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett, nahm ihre kalten Hände zwischen die seinen und sagte sanft überredend: »Willst du mir nicht alles erzählen, Eva? Vielleicht kann ich dir helfen – ich weiß es nicht …«
»Mir kann keiner helfen.«
»Doch. Vielleicht doch.«
»Ja – wenn du den Mut hättest, mich totzuschlagen. Ach, Bubi, ich habe oft gedacht, wenn doch einer den Mut hätte, mich totzuschlagen! Mich selbst umzubringen, bin ich zu feige. Aber dazu wäre ich nicht zu feige! Ich schwöre dir, ich würde nicht weglaufen, nicht einmal schreien würde ich …«
»Bitte, Eva, erzähl mir doch, wie alles gekommen ist. Du hast auf ihn geschossen, sagst du. Warum hast du denn auf ihn geschossen? Man schießt doch nicht gleich auf einenMenschen, auch wenn er schlecht ist! Du bist doch meine Schwester, ich kenne dich doch, so etwas muß dir doch sehr schwer geworden sein …?«
Sie nickte, aber sie hatte kaum zugehört, sie war bei ihren früheren Gedanken.
»Nein«, sagte sie. »Ich soll nicht sterben. Ich soll nur durch ihn sterben – wenn er mich genug gequält hat. Weißt du, Bubi«, sagte sie fieberhaft, und er nickte ihr ermunternd zu, drückte ermunternd ihre Hände. »Weißt du, das ist schon eine Weile her, daß ich
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