Der eiserne Gustav
Es sind schreckliche Wagen, lärmend und ächzend. Durch zerbrochene Scheiben fährt der Winterwind. Die Fenstergurte sind abgeschnitten, die Gepäcknetze zerrissen – aber die Wagen tun ihren Dienst weiter, ächzend und lärmend. Sie bringen ihn an sein Ziel, an ein Ziel, für das er sich in zwei Jahren Westfront vorbereitete – also vorläufig zum Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau.
Die Wexstraße ist leicht zu finden, jeder zeigt sie ihm. Aber sie gefällt ihm nicht, im grauen Licht dieses frühen Winterabends scheint sie ihm grau und eng. Die Frankfurter Allee ist breit und luftig, hier kann man ja nicht atmen. Ach, Vater!
Ach, Vater …! Plötzlich ist Otto stehengeblieben, er sieht etwas, etwas Bekanntes, einen Gruß aus dem Ehemals! An der Bordkante der Straße steht eine Droschke ohne Kutscher, aber Otto braucht auch keinen Kutscher zu sehen. Er kennt das Pferd, den Schimmel, der mit trübe hängendem Kopf das Pflaster zu studieren scheint.
Er krault ihm die Stirnmähne, er faßt nach den Nüstern. Aber das Pferd läßt nicht die Ohren spielen, es schnobert nicht mit den Nüstern in die liebkosende Hand – kaum, daß es den Blick seiner trüben, wie erloschenen Augen nach dem Sohn seines Herrn hinwendet.
Wie oft habe ich dich geputzt, Schimmel! Weißt du noch, wie kitzlig du am Bauch warst, immer schlugst du dann nach mir, ich konnte nicht genug aufpassen. Es war nicht Bosheitbei dir, Übermut war es, Lebenslust! Damals war ich der Geduckte und du der Übermütige. Aber jetzt … Nein, übermütig bin ich noch immer nicht, aber ich hebe doch schon den Blick vom Pflaster. Ich sehe den Rand des Himmels, etwas Weites, auf das man zugehen kann …
So etwa, und dazwischen immer wieder: Schimmel, wo ist der Vater? Schimmel, was ist mit Vater geworden? Schimmel!
Nein, es ist natürlich gar nicht zu erwarten, daß der Vater gerade mit diesem, seinem jämmerlichsten Pferde fährt. Die Mutter hat wohl geschrieben, das Geschäft gehe schlecht, man müsse sich sehr einschränken, Vater fahre wieder selbst … Aber der Kutscher, der sicher dort in der Kneipe sitzt, wird irgendein Aushilfskutscher sein, der die anderthalb Stunden bis Feierabend vertrödeln will.
Otto tritt in die Kneipe.
Es ist jetzt halb fünf, draußen fangen die Gaslaternen an aufzuleuchten. Aber hier drinnen sparen sie mit dem Licht, über der Theke brennt nur eine funzlige Birne, gerade, daß der Wirt sehen kann, wie voll er seine Gläser macht. In den Winkeln sitzen ein paar dunkle Gestalten.
Gleich bei der Tür setzt sich Otto und ruft dem Wirt zu: »Ein Helles, bitte!«
Ein Augenblick ist Ruhe, dann sagt eine langsame, knarrende Stimme: »Mensch, det is dir doch woll klar, det dieser Krieg nich jewonnen werden kann. De U-Boote, haben se jesacht – un nu haben se ihre U-Boote, un der Amerikaner schickt Leute un Waffen, noch un noch …«
»Jestatte mal …«
»Verjiß deine Rede nich, jetzt red ick. Jroße Offensive im Westen, haben se jesacht – und die sitzen immer noch an dieselbe Stelle. Entscheidung im Osten, haben se jesacht – na, nu haben se im Osten entschieden – und wat nu? Schiebste darum wenjer Kohldampf?«
»Laß mir mal reden, Franz!«
»Verjiß deine Rede nich, ick sare bloß ein Wort, ick sare: die internationale Sozialdemokratie! Du denkst, die jroßenHerren … Ach wat, die jroßen Herren, wat die uns schon allet erzählt ham, aber mal dämmert et ooch beim Dußligsten, und wenn et erst dämmert, denn wird et rot …«
»Verbrenn dir bloß die Schnauze nich, da sitzt’n Soldat …«
»Nu wat denn? Wat heißt denn hier Soldat? Der denkt jenau so wie icke! Wer in der Scheiße sitzt, is anjeschissen, det is nu mal so injerichtet im Leben …«
Aber er verstummt, denn der Soldat ist aufgestanden. Jetzt nimmt er das Bierglas in die Hand und geht quer durch das Lokal auf den Tisch des Sprechers zu.
Der pustet sich auf und duckt sich doch schon halb unter den Tisch. Er ruft die anderen halb weinerlich zu Zeugen auf: »Wat ha’ick denn jesacht? Jar nischt ha’ick jesacht! Im Osten werden wir’t schon schaffen, ha’ick jesacht!«
Aber während er noch redet, geht Otto an seinem Tisch vorüber. Er geht, das Bierglas in der Hand, auf einen Tisch hinten an der Wand zu, er setzt das Glas auf den Tisch, er sagt: »Guten Abend, Vater. Ich bin’s, Otto!«
Der alte Mann hob langsam seine großen, kugeligen, starken Augen von dem trüben Bierrest, vor dem er brütend gesessen. Dann, mit einer plötzlichen Bewegung,
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