Der falsche Engel
Morgen nach Moskau fahren zu lassen,
abgelehnt hatte.
Sie hatte schon mehrmals dort übernachten müssen. Man hatte ihr in einer Finnhütte ein kleines, steriles Zimmer mit Bad überlassen,
und sie hatte geschlafen wie eine Tote. Das erste Mal nach der Operation, die fünfeinhalb Stunden gedauert hatte.
Mamonow hatte sie von den Sprechstunden freigestellt. Sie behandelte nur noch zwei Patienten – Angela und diesen Mann, über
den sie alles und nichts wusste. Sie kannte sein Alter, sein Gewicht, seinen Blutdruck, seine Blutgruppe. Sie hätte mit geschlossenen
Augen den Bau seiner Gesichtsknochen und Muskeln rekapitulieren können, aber wer er war, woher er kam, was mit ihm passiert
war und warum er dringend ein neues Gesicht brauchte, davon hatte sie keine Ahnung.
Sie mutmaßte, dass er Offizier war. An seiner Sprache erkannte sie den Moskauer. Sie vermutete, dass seine Beine, die Doktor
Awanessow gerettet hatte, nicht bei einem Sport- oder Autounfall verletzt worden waren.
Einmal hatte Awanessow ihn in ihrer Gegenwart mit Sergej angesprochen und dabei vielleicht zum ersten Mal nicht gelogen. Sie
hatte noch nie erlebt, dass ein Arzt, ein begabter Chirurg und ein eigentlich guter Mensch so viel und so dreist log.
Aber bist du denn besser? Man hat dich ein bisschen eingeschüchtert und dann überredet, eine Schweigeverpflichtung zu unterschreiben,
und du hast dich bereit erklärt, bei einem höchst merkwürdigen Experiment an einem lebendigen, starken, aber vollkommen hilflosen
Menschen mitzuwirken. Awanessow ist Oberst des medizinischen Dienstes, er musste gehorchen. Aber du hättest dich problemlos
weigern können, ohne dass dir etwas passiert wäre.
Bei ihrem ersten Besuch auf der Basis hatte ihr Raiski Fotos von zwei Männern hingelegt. Der eine entsprach dem gängigen Schönheitsideal.
Schwere Augenbrauen, große, gerade Nase, schmale Lippen, kantiges Kinn. Raiski nannte ihn ironisch lächelnd »Objekt A«. Julia
bekam zwanzig Fotos von ihm, aus verschiedenen Blickwinkeln, Nahaufnahmen und Totalen: Lächelnd, nachdenklich, redend, erstaunt,
stirnrunzelnd, gähnend. Julia entnahm daraus nur, dass er gutsituiert war, in Maßen eitel und ansonsten nichtssagend.
»Objekt B« war nicht sonderlich attraktiv, wirkte aber weit sympathischer als Objekt A, trotz der weichen Stupsnase und der
abstehenden großen Ohren. Er hatte lebhafte kluge Augen und eine vollkommen natürliche Mimik.
»Was meinen Sie, sind sich die beiden Männer ähnlich?«, fragte Raiski, während sie die Fotos betrachtete.
»Ganz und gar nicht. Wieso?«
»Sie sind im selben Alter, gleich groß, ungefähr gleich gebaut, haben dieselbe Schuh- und Konfektionsgröße, haben beide graue
Augen und dunkelblondes Haar. Beide sind gebürtige Moskauer und haben Hochschulbildung. Beide waren nie verheiratet und haben
keine Kinder. Sie habensogar dieselbe Blutgruppe, die ziemlich seltene Gruppe Null, Rhesusfaktor positiv.«
»Sind sie miteinander verwandt?«
»Nein. Sie sind nicht verwandt. Aber sie haben vieles gemeinsam. Finden Sie nicht?«
»Michail, was wollen Sie von mir hören?«
»Ich möchte, dass Sie mir sagen, ob sich diese beiden Menschen ähneln, von Ihrem professionellen Standpunkt aus gesehen.«
»Mit anderen Worten, ob man sie mittels plastischer Operation einander ähnlich machen kann?«
»Genau.« Raiski nickte.
»Ja, wahrscheinlich«, antwortete Julia nach einer langen Pause.
»Wer von den beiden ließe sich leichter verändern, um eine Kopie des anderen zu werden?«
»Das ist für die Technologie der Operation ohne Belang. Aber ich glaube nicht, dass Objekt A gern Segelohren und eine Stupsnase
hätte. Obwohl mir Objekt B sympathischer erscheint. Aber da spielen andere Dinge hinein, die nichts mit meinem Beruf zu tun
haben.«
»Sehr interessant.« Raiski lächelte. »Warum gefällt B Ihnen besser? A ist doch ein Bild von einem Mann.«
»Verwöhnt, launisch, infantil«, murmelte Julia rasch, »Selbstüberschätzung und ein krankhaftes Bedürfnis nach Bestätigung,
das er befriedigt, indem er ständig die Frauen wechselt. Betätigt sich als Geschäftsmann, nicht sehr erfolgreich, aber zum
Leben reicht es. Nicht klug, aber schlau. Feige. Gerät in Extremsituationen in Panik. Lügt gern und gut. Ansonsten ein durchaus
netter junger Mann.«
»Kennen Sie ihn etwa?« Raiski funkelte sie nervös an.
Julia bemerkte die Sorge in seiner Stimme und fragte unschuldig lächelnd: »Warum
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