Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
auf die Bälle. Kara hatte sie nicht aus ihrer Handtasche genommen – glaubte er zumindest.
Sie habe sie »materialisiert«, behauptete die junge Frau. (Es sei offenbar ein beliebter Zaubertrick, intransitive Verben in transitive zu verwandeln, hatte Rhyme zuvor bereits trocken angemerkt.)
»Wo wohnen Sie?«, fragte er.
»Im Village.«
Rhyme nickte. Es rief Erinnerungen wach. »Als ich noch verheiratet war, haben viele unserer Freunde dort unten gewohnt. Und in SoHo und TriBeCa.«
»Ich bin nur selten nördlich der Dreiundzwanzigsten«, sagte sie.
Er lachte. »Zu meiner Zeit war die Vierzehnte der Beginn der entmilitarisierten Zone.«
»Unsere Seite gewinnt, so wie’s aussieht«, scherzte sie, ließ die roten Bälle mal in der einen, mal in der anderen Hand aufblitzen und verschwinden und fing dann an, ein wenig damit zu jonglieren.
»Woher kommt Ihr Akzent?«, fragte er.
»Ich hab einen Akzent?«
»Dann eben Betonung, Klangfarbe…
Tonfall
.«
»Wahrscheinlich aus Ohio«, sagte sie. »Im Mittelwesten.«
»Genau wie bei mir«, sagte Rhyme. »Ich stamme aus Illinois.«
»Aber ich bin schon mit achtzehn nach New York gekommen, um in Bronxville aufs College zu gehen.«
»Sarah Lawrence, Schauspielstudium«, folgerte Rhyme.
»Anglistik.«
»Und es hat Ihnen hier gefallen, also sind Sie geblieben.«
»Na ja, richtig gut wurde es erst, als ich aus den Vororten wegkam und mitten in der Stadt wohnen konnte. Nach dem Tod meines Vaters ist meine Mutter ebenfalls hergezogen, um in meiner Nähe zu sein.«
Die Tochter einer verwitweten Mutter… genau wie Sachs, dachte Rhyme. Er fragte sich, ob Kara wohl mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte. Seit einigen Jahren herrschte zwischen Amelia und Rose eine Art Waffenstillstand, doch früher war ihre Mutter aufbrausend, launisch und unberechenbar gewesen. Rose konnte damals nicht begreifen, wieso ihr Mann mit dem Dasein als einfacher Streifenpolizist vollauf zufrieden war und weshalb ihre Tochter alles Mögliche sein wollte, nur nicht das, was ihre Mutter sich für sie gewünscht hatte. Natürlich wurden Vater und Tochter auf diese Weise zu Verbündeten, was die Angelegenheit zusätzlich erschwerte. Sachs hatte Rhyme erzählt, dass sie und Herman sich an schlechten Tagen gemeinsam in die Garage zurückzogen, wo alles so herrlich logisch funktionierte: Wenn ein Ventil zu viel Spiel hatte, dann infolge einer eindeutigen und physikalisch nachvollziehbaren Ursache – es war falsch eingestellt, oder ein Dichtungsring war kaputt. Motoren, Stoßdämpfer und Getriebe überraschten dich weder mit melodramatischen Stimmungswechseln noch mit kryptischen Vorwürfen, und auch im schlimmsten Fall gaben sie nicht dir die Schuld für ihre eigenen Fehler.
Rhyme hatte Rose Sachs mittlerweile mehrmals getroffen und sie als charmante, gesprächige, ein wenig exzentrische Frau kennen gelernt, die stolz auf ihre Tochter war. Doch er wusste, dass die Vergangenheit nirgendwo so lebendig wurde wie zwischen Eltern und Kindern.
»Und wie läuft es so, wenn man sich häufig sieht?«, fragte Rhyme skeptisch.
»Klingt wie eine Sitcom aus der Hölle, was? Nein, nein, meine Mum ist großartig, wirklich. Sie ist… he, Sie wissen schon, eine
Mutter
. Die sind eben einfach so. Das hört niemals auf.«
»Wo wohnt sie?«
»Sie lebt in einem Pflegeheim an der Upper East Side.«
»Ist sie sehr krank?«
»Nichts Ernstes. Sie kommt schon wieder auf die Beine.« Kara ließ geistesabwesend die Bälle über Fingerknöchel und Handfläche kreisen. »Sobald es ihr besser geht, fliegen wir nach England, nur wir zwei. London, Stratford, die Cotswold Hills. Meine Eltern und ich sind schon mal dort gewesen. Es war unser allerschönster Urlaub. Diesmal werde ich endlich auf der linken Straßenseite Auto fahren und warmes Bier trinken. Damals durfte ich das noch nicht. Na klar, ich war ja auch erst dreizehn. Kennen Sie England?«
»Sicher, ich habe früher gelegentlich mit Scotland Yard zusammengearbeitet. Und ich habe dort Vorträge gehalten. Das letzte Mal liegt allerdings… nun ja, eine ganze Weile zurück.«
»Zauberei und Illusionen waren in England schon immer populärer als hier. Es gibt da drüben so viel Bedeutendes zu sehen. Ich möchte Mum zeigen, wo in London die Egyptian Hall gestanden hat. Vor hundert Jahren war sie das Mekka aller Zauberkünstler. Ich glaube, das wird für mich so eine Art Wallfahrt.«
Er schaute zur Tür. Keine Spur von Thom. »Bitte tun Sie mir einen
Weitere Kostenlose Bücher