Der ferne Spiegel
Priester, der eine Prozession durch das jüdische Viertel von Prag führte, von einem jüdischen Kind mit Steinen beworfen wurde, woraufhin die Einwohner der Stadt im Zorn dreitausend Menschen der jüdischen Gemeinde niedermetzelten. Als die Überlebenden Gerechtigkeit beim König suchten, erklärte Wenzel, daß die Juden ihre Bestrafung verdient hätten, und belegte die Überlebenden, nicht die Täter, mit Bußgeldern. [Ref 370]
Die Schwierigkeiten des Königs verstärkten sich im Laufe der 1390er Jahre. Er war die meiste Zeit über betrunken, aber nicht so gleichgültig, daß er nicht in der Lage gewesen wäre, seine böhmischen Besitzungen auf Kosten des Adels zu vergrößern. Auf diese Weise schaffte er es, sie lange genug in Opposition zu ihm zu vereinigen, daß sie ihn schließlich als Kaiser absetzen konnten (1400). Er blieb aber König von Böhmen.
Wenzels Schwierigkeiten waren nicht allein persönlicher oder charakterlicher Art. Sie waren typisch für das Jahrhundert. Auch er hatte sich im dunklen Wald seiner Zeit verirrt. Wie Johann II. von Frankreich wurde er in eine Regierungsaufgabe hineingeboren, der er in einer Zeit allgemeiner Verwirrung nicht gewachsen war. Wie die weltliche Regierung versagte auch die Kirche vor ihren Aufgaben und gab damit der stärksten Reformbewegung in Europa den Impuls. Die Hussitenerhebung, die ihre Lehre von Wyclif und ihren Namen von Jan Hus hatte, der 1415 als Ketzer verbrannt werden sollte, ebnete den Weg zur Reformation, die einhundert Jahre später begann. Sie machte auch Wenzel ein Ende, denn sie bereitete ihm solchen Ärger, daß er 1419 an einem Schlaganfall verstarb.
Welch eine fieberhaft erregte Atmosphäre in Frankreich herrschte, zeigte sich 1389, als Dominikanermönche anläßlich eines leidenschaftlichen Streites über die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria angeklagt wurden, die Flüsse – wenn auch
nicht die Brunnen wie die Juden während der Pest – vergiftet zu haben. Während die fromme Verehrung der Jungfrau noch immer solche Ausbrüche herbeiführen konnte, waren Unglaube und Ehrfurchtslosigkeit am Ende des Jahrhunderts weit verbreitet, zumindest wenn man den Priestern glauben will, deren Klagen in dieser Hinsicht beredt waren. Die Laienschaft zu schelten war Teil der Berufsausübung des Geistlichen, aber in dieser Zeit ging die Lautstärke weit über das Übliche hinaus. Viele Leute »glauben an nichts Höheres als das Dach ihres Hauses«, jammerte der zukünftige heilige Bernhard von Siena. Ein anderer Mönch, Walsingham, berichtete, daß gewisse Freiherren in England nicht glaubten, »daß es einen Gott gibt, und sie leugnen das Altarssakrament und die Wiederauferstehung nach dem Tode und betrachten das Ende eines Menschen nicht anders als den Tod eines Lasttieres«. Gegenbeweise eines versagenden Glaubens aber sind die Testamente und Stiftungen, die Kapellen, Klöstern, Einsiedlern und Pilgern galten. Wenige, die sich während ihres Lebens zum Unglauben bekannt hatten, gingen ein Risiko ein, wenn sie das Ende kommen fühlten.
Die zu häufig ausgesprochene Exkommunikation aufgrund der Mißachtung des Abendmahls und der Fastentage war ein Maßstab des Niedergangs religiösen Interesses. Die Kirchen waren leer und die Messen schwach besucht, schrieb Nicolas de Clamanges in seiner großen Abhandlung De Ruina et Reparatione Ecclesiae (Über den Ruin und die Reform der Kirche). Die Jungen gingen ihm zufolge kaum noch in die Kirche außer an Festtagen und auch dann nur, um die angemalten Gesichter, dekolletierten Kleider und aufsehenerregenden Frisuren der Damen zu sehen, »gewaltige Türme mit Hörnern und behangen von Perlen«. [Ref 371]
Unehrerbietigkeit war in vielen Fällen ein Nebenprodukt einer Religion, die so sehr zu einem Teil des Lebens geworden war, daß sie mit übermäßiger Vertrautheit behandelt wurde, aber der Chor des Tadels am Ende des Jahrhunderts deutet auf den wachsenden Abscheu der Frommen gegen soviel Ehrfurchtslosigkeit. »Die Menschen schlafen in ihrer Gleichgültigkeit, und sie schließen die Augen vor dem Skandal«, trauerte der Mönch von St. Denis. »Es war Zeitverschwendung, über Wege zur Reform der Kirche zu sprechen.«
Gleichgültigkeit ist indessen, genau wie ein Vakuum in der Natur, kein natürlicher Zustand des menschlichen Lebens. Eine neue pietistische Bewegung entwickelte sich in den kleinen Handelsstädten Nordhollands zwischen trostlosem Marschland und den Mooren in der Nähe der Rheinmündung – so
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