Der Finger Gottes
ihn bewegen wollte, glaubte er, ein Termitenschwarm krabbelte durch ihn hindurch. Das grelle Licht der Sonne fiel direkt durchs Fenster, und selbst wenn er die Augen öffnen wollte, so konnte er es im Moment noch nicht, denn das Licht stach mit tausend Nadeln auf einmal mitten in sein Hirn.
Charlie hustete, würgte, sein Kopf lief dunkelrot an, er spuckte zähen Schleim neben das Bett auf den Boden. Er verfluchte dieses Brennen in der Brust, denn wenn es brannte, mußte er jedesmal husten, und wenn er hustete, schmerzte sein Schädel noch mehr.
»Verfluchte Sauferei!« brummte er und hustete gleich wieder. Er drehte seinen Kopf auf die Seite, weg von der Sonne, die es nicht gut mit ihm meinte. Der Boden war übersät von Unrat, überall ungespültes Geschirr, neben dem Bett angebrochene,zum Teil noch halbvolle Milchtüten, Bier- und Schnapsflaschen standen oder lagen über den ganzen Raum verteilt. Es roch streng und durchdringend nach Schweiß, nach saurer Milch und verschimmeltem Chili, nach wochen- oder monate- oder gar jahrealtem Müll.
Langsam und stöhnend kroch Charlie aus seinem Bett. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber sein Gedächtnis war irgendwann gestern nachmittag bei Toni stehengeblieben. Filmriß. Ein Zustand, an den Charlie seit vielen Jahren gewöhnt war, weshalb eine Erinnerungslücke von mehreren Stunden ihn nicht weiter beunruhigte. Ihm war klar, der Suff würde eines Tages einen ganz langen Filmriß verursachen.
Er schlurfte zur Tür, hinter der das Badezimmer lag – wenn diese Bezeichnung überhaupt zu gebrauchen war für eine Kammer mit einer verrosteten, seit Jahren nicht mehr benutzten Badewanne, einem halbverfallenen rissigen Waschbecken und einem Klosett, aus dem es erbärmlich stank.
Charlie stand lange vor der Kloschüssel, um seine Blase bis auf den letzten Tropfen zu entleeren. Ohne nachzuspülen, schlurfte er wieder nach draußen, um zu sehen, was dort vorging.
»Verflucht«, stieß er hervor, »was ist denn hier passiert?« Er rieb sich verwundert die Augen, schaute auf die Soldaten, die nicht mehr existierenden Häuser, die Ruinen, die sich vor ihm ausbreiteten. »Ich sollte endlich aufhören zu saufen«, sagte er zu sich selbst, kratzte sich im fettigen Gestrüpp seiner Haare und wollte gerade wieder ins Haus zurückgehen, als ihn eine Stimme zurückhielt.
»He, Sie da, ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Hä? Meinen Sie mich?« fragte er und deutete auf sich.
»Ja, Sie! Alles Roger?«
»Denke schon, warum?«
»Schon gut, schon gut!« antwortete der unbekannte uniformierte Fremde auf der Straße.
»Was is’n hier passiert?« fragte Charlie.
»Wollen Sie mich verscheißern?«
»Nee, Mann, würd ich sonst fragen? Sagen Sie schon!«
»Mann, o Mann, so einen Schlaf möchte ich auch haben! Hier hat’s gestern nacht einen Tornado gegeben. Sie können von Glück sagen, daß bei Ihnen noch alles ganz geblieben ist.« Der Fremde setzte seinen Weg fort, bevor Charlie etwas erwidern konnte.
»Leck mich am Arsch«, murmelte Charlie. »Jetzt brauch ich erst mal ’nen Schnaps!«
Er fand keinen im Haus, nur leere Flaschen. Er mußte zu Toni gehen. Bei jedem Schritt dröhnte sein Schädel etwas mehr, seine Knie schmerzten, als er die Stufen zur Straße hinunterging. Er kam an vielen fremden Menschen vorbei, keiner beachtete ihn.
Toni saß auf seiner kleinen Bank vor der Kneipe. »Tag, Charlie. Ordentlich was losgewesen, was?«
»Keine Ahnung. Hab eben erst davon gehört.«
»Was, soll das etwa heißen, du hast . . .? Na ja, so voll wie du gestern warst, wundert mich das eigentlich gar nicht.«
»Ach, halt die Klappe! Einen dreistöckigen. Und wo is’ Willy? Is’ doch schon später Nachmittag!«
»Keine Ahnung«, antwortete Toni schulterzuckend. »Vielleicht hat’s ihn erwischt. Aber malen wir nicht gleich den Teufel an die Wand. Vielleicht hat er ja auch in der Scheune übernachtet.«
»Welche Scheune?«
»Du mußt aber wirklich besoffen gewesen sein! Willy ist doch gestern nacht zum Kampf gegangen. Du wolltest sogar mitgehen, aber als Willy ging, warst du schon so sternhagelvoll, na ja, mehr brauche ich ja wohl nicht zu sagen.«
»Was soll’s«, sagte Charlie und winkte ab und folgte Toni in die Kneipe.
Kapitel 32
Brackmann kehrte nachdenklich in sein Büro zurück. Englers immer seltsameres Verhalten beunruhigte ihn. Als wollte er die Wahrheit sagen, um dann doch nicht den Mut dazu aufzubringen. Eines stand fest, Engler verbarg etwas, oder er deckte
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