Der geduldige Tod (German Edition)
völlig hysterisch ins Telefon geschrien hatte, klang fast unglaublich. Sie musste es selbst sehen. Sie eilte die Treppen hinauf, wo sie Victoria aufgelöst auf den Stufen sitzend fand. Die Frau hielt einen Reisepass in ihrer Hand. Er war schmutzig und schon ganz verbogen, so verkrampft umklammerte sie ihn.
»Wo ist er?«, fragte die Kommissarin.
»Im Wohnzimmer auf dem Tisch.« Victorias Stimme klang hohl und leer. Genauso wie sie sich fühlte.
»Sie haben nichts angefasst?«
Kopfschütteln.
Danach verschwand Lucia Hernandez im Wohnzimmer.
Die Kommissarin hatte schon viel gesehen in ihrem Beruf. Obwohl sie zugeben musste, dass es andere in diesem Job wesentlich schwerer erwischt hatten. Madrid zum Beispiel war ein heißes Pflaster, auch in anderen Großstädten hatte man viel mehr mit Schwerverbrechern zu tun, vor allem mit organisierter Kriminalität und Drogendelikten. Hier, auf der Insel, boomte dagegen die Kleinkriminalität: Diebstähle, Raubüberfälle auf Touristen, Prostitution gehörten zur Tagesordnung. Morde gab es eher selten, und einen Serienmörder hatte Kommissarin Hernandez bisher nur in ihren Lehrbüchern gesehen. Sie selbst stammte von der Insel, kannte jeden Ort und seine Bewohner nur zu gut. Ihr Vater hatte in der Werft gearbeitet, bis er mit fünfzig an Lungenkrebs starb. Ihre Mutter arbeitete als Wäscherin in einem großen Hotelkomplex. Ihre beiden Brüder hatten ein Busunternehmen gegründet, das täglich viele Touristen durch die Gegend fuhr und trotzdem ums Überleben kämpfen musste. Und ihre Schwester, Hausfrau und Mutter, versuchte gerade verzweifelt, ihre drei Kinder in Privatschulen unterzubringen. Wenn Lucia Hernandez mit Kriminalität in Berührung kam, dann meistens mit aufgebrachten Touristen, denen die Brieftasche, das Gepäck, der Mietwagen oder andere Dinge entwendet worden waren. Hin und wieder musste sie einen Unfall mit Fahrerflucht aufklären, und ganz selten mal einen Totschlag, meistens an Einheimischen. Sie hatte mit Serienmördern überhaupt keine Erfahrung und bereits Verstärkung vom Festland angefordert, aber man hatte sie lediglich vertröstet. Die Behörden drüben hatten selbst alle Hände voll zu tun. Soeben erst war ein berühmter Fußballstar erstochen in Madrid aufgefunden worden, ein neuer Menschenhändlerring hielt den Süden des Landes in Atem. Sie stand allein da. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie den Fall lösen sollte. Und wie sie auf das reagieren sollte, was sie in Victorias Wohnzimmer mitten auf dem Tisch vorgefunden hatte. Es war ein menschlicher Kopf. Der Kopf einer jungen Frau mit Locken. Die Gesichtshaut war blass und fahl, die toten Augen starrten ins Nichts. Er lag auf der Tischplatte wie ein Deko-Artikel.
Dieser Kopf gehörte zum Körper der toten Tochter des Fischhändlers, so viel war klar.
Kommissarin Lucia Hernandez holte tief Luft, dann nahm sie das Funkgerät zur Hand und rief die Spurensicherung, die sie nach dem hysterischen Anruf von Victoria vorsichtshalber gleich verständigt hatte, nach oben.
Dann sah sie sich noch einmal genau im Wohnzimmer um, doch als sie nichts Außergewöhnliches entdecken konnte, verließ sie den Raum und überließ ihn den Experten von der Spurensicherung.
Sie trat auf Victoria zu. »Wir bringen Sie vorübergehend in einem Hotel unter. Kommen Sie mit.«
»Aber ich brauche noch ein paar Sachen.« Victoria wollte zurück in die Wohnung, doch die Kommissarin hielt sie fest.
»Das geht nicht. Wer weiß, vielleicht hat der Mörder noch mehr versteckt. Sie würden nur Spuren zerstören.«
Victoria nickte einsichtig, obwohl sie das Gefühl hatte, die Worte der Kommissarin kaum zu verstehen. Sie war völlig durcheinander und lief wie betäubt neben der Frau her. Als sie an der Wohnung von Señora Rodriguez im Erdgeschoss vorüberkam, sah sie entsetzte Gesichter, und die Vermieterin knallte die Wohnungstür sofort zu. Doch Lucia Hernandez tat so, als hätte sie nichts bemerkt und brachte Victoria zum Auto. Dort gab sie den Befehl, sie in ein bestimmtes Hotel zu bringen und erklärte, sie würde später noch zu ihr kommen.
Victoria nickte nur erneut, dann ließ sie sich davonfahren.
Das Hotel lag in einer ruhigen Gegend der Stadt. Das Meer konnte man mit viel Fantasie zwischen zahlreichen Häusern und Hinterhöfen hindurch erahnen. Aber Victoria war der Blick sowieso egal. Sie saß starr und unbeweglich auf der Bettkante und hatte Schwierigkeiten zu verarbeiten, was sie erlebt und gesehen
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