Der gefährliche Drache
zwickte ihn zärtlich in die rosa Ohren, nahm ein blaues in Leder gebundenes Buch von einem Regalbrett in der Nähe und ließ mich in einen der großen Armlehnensessel gegenüber dem Kamin sinken. Während das Feuer in angenehm mittelalterlicher Manier knisterte und knackte, wiegte ich das blaue Notizbuch im Arm und dachte an das erste Mal, als ich es aufgeschlagen hatte.
Das Buch hatte einst der besten Freundin meiner verstorbenen Mutter gehört, einer Engländerin namens Dimity Westwood. Die beiden Frauen hatten einander während des Zweiten Weltkriegs in London kennen gelernt, als sie ihrem jeweiligen Land dienten. Ihre Freundschaft hatte auch nach dem Krieg Bestand gehabt, nachdem meine Mutter in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war.
Persönlich waren die beiden Freundinnen einander nicht wieder begegnet, aber sie sorgten für einen regen Luftbriefverkehr, indem sie beständig Briefe austauschten, in denen sie einander ihren Alltag beschrieben. Nach dem jähen Tod meines Vaters wurde das Briefeschreiben für meine Mutter zu einem Refugium, zu ihrem ganz persönlichen Hort der Ruhe und des Friedens, an dem sie den bisweilen entmutigenden Anforderungen an eine alleinerziehende und Vollzeit arbeitende Mutter für eine Weile entkommen konnte. Meine Mutter erzählte niemandem von dieser Zuflucht, nicht einmal ihrer Tochter. Als Kind kannte ich Dimity Westwood nur als Tante Dimity, die Heldin in einer Serie von Gutenachtgeschichten, die meine Mutter für mich erfunden hatte.
Erst als Tante Dimity und meine Mutter gestorben waren, erfuhr ich von der Frau namens Dimity Westwood, die es wirklich gegeben hatte. Nämlich als Dimity mir ein komfortables Erbe hinterließ, ein honigfarbenes Cottage in den Cotswolds, die einzigartigen Briefe, die sie und meine Mutter ausgetauscht hatten, und ein ganz spezielles Buch – eine Art Tagebuch mit dunkelblauem Ledereinband.
Wann immer ich das Buch aufschlug, erschien Tante Dimitys Handschrift, eine altmodische, gestochen scharfe Schrift, wie man sie in der Schule in Finch zu einer Zeit gelehrt hatte, als ein Holzofen im Salon die heutige Zentralheizung ersetzte. Als ihre Handschrift zum ersten Mal über die leeren Seiten floss, fiel ich beinahe in Ohnmacht vor Schrecken, aber ihre freundlichen Worte beruhigten mich, und bald begann ich, mich auf sie als eine beständige Quelle der Weisheit und der Hilfe zu verlassen. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, den Graben zwischen dem irdischen und dem ätherischen Dasein zu überbrücken, aber eines wusste ich ganz sicher: Tante Dimity war mir eine ebenso gute Freundin, wie sie es meiner Mutter gewesen war. Ich wollte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.
Gewärmt von der Erinnerung – und dem knackenden Kaminfeuer –, legte ich das Buch in den Schoß, schlug es auf und sagte: »Dimity? Bist du da? Ich muss dir erstaunliche Neuigkeiten berichten!«
Die vertrauten Worte in königsblauer Tinte kringelten sich über die leere Seite. Wie Du weißt , meine Liebe , bin ich immer erpicht auf erstaunliche Neuigkeiten . Aber sage nichts , lass mich raten . Hat Peggy Taxman vergessen , Dich für die Hundeschau einzuteilen?
»Das Glück möchte ich gern mal haben«, sagte ich und rollte die Augen. »Nein, Dimity, es ist tausend Mal erstaunlicher, als von Peggy in Sachen Drecksarbeit übergangen zu werden.«
Meine Güte . Sind Außerirdische auf dem Dorfanger gelandet?
»Ganz heiß«, sagte ich, »noch besser als Außerirdische.« Unfähig, meine Nachricht noch länger hinauszuzögern, platzte ich heraus: »Die König-Wilfred-Kirmes kommt nach Finch!«
Wie aufregend! Die blaue Handschrift hielt kurz inne, ehe sie sich weiter über die Seite zog. Und wer ist , wenn ich fragen darf , König Wilfred? Und warum hält er eine Kirmes in Finch ab?
»König Wilfred ist Calvin Malvern. Und es heißt deshalb Kirmes und nicht Jahrmarkt, weil es sich altmodisch anhören soll. Und die Kirmes wird nicht direkt in Finch, sondern in der Nähe, im Bishop’s Wood stattfinden.«
Warte einen Moment , Lori . Hast Du Calvin Malvern gesagt? Sprichst Du von Horace Malverns Neffen?
»Genau von dem.«
Ich kannte Calvin Malvern als kleinen Jungen . Ich hätte schwören können , dass er einem alten Farmergeschlecht entstammt . Wann und wie ist er zu königlichem Blut gekommen?
»Ich glaube nicht, dass auch nur ein Tropfen blaues Blut in seinen Adern fließt. So weit ich sagen kann, ist Calvin der selbsternannte König eines
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