Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
ergänzt Ann aufgeregt.
Mutter Elena krümmt einen Finger. »Komm näher, Kind. Mutter Elena wird dir deine Zukunft vorauss a gen.«
Ich bahne mir einen Weg durch das Chaos aus Büche r stapeln, bunten Schals, Töpfen mit Kräutern und allen möglichen Salbentiegeln. Hinter der alten Frau hängt eine Laterne an einem Haken. In dem harten Licht sehe ich, wie zerfurcht und dunkel ihr Gesicht ist. Ihre Ohren sind durc h stochen und sie trägt Ringe an allen zehn Fingern. Sie hält mir einen Korb hin, in dem ein paar Schillinge liegen.
Felicity räuspert sich und flüstert: »Gib ihr ein paar Pence.«
»Aber dann habe ich nichts mehr bis zum Besuch meiner Familie«, flüstere ich zurück.
»Gib. Ihr. Das. Geld«, presst Felicity zwischen lächel n den Lippen hervor.
Mit einem tiefen Seufzer lasse ich meine letzten Kupfermü n zen in den Korb fallen. Mutter Elena schüttelt ihn. Zufri e den mit dem Geklimper leert sie den Korb in ihre Geldbö r se.
»Also, was nehmen wir? Die Karten? Die Hand?«
»Mutter Elena, ich glaube, unsere Freundin würde sich sehr für die Geschichte interessieren, die du uns erzählt hast –über die zwei Mädchen von Spence.«
»Ja, ja, ja. Aber nicht, solange Carolina hier ist. Carol i na, hol jetzt einen Eimer Wasser.« Es ist ni e mand sonst im Raum. Langsam fühle ich mich unb e haglich. Mutter Elenas Hände klopfen auf die Ka r ten. Sie legt den Kopf schief, als lausche sie auf e t was, was sie vergessen hat –die Melodie eines Li e des oder eine Stimme aus der Vergangenheit. Und als sie zu mir hochblickt, ist es, als seien wir alte Freundi n nen, die wieder vereint sind.
»Ah, Mary, was für eine nette Überraschung. Nun sag, was kann Mutter Elena heute für dich tun? Ich hab köstl i che Honigkuchen. Hier.«
Ihre Hände legen unsichtbare Kuchenstücke auf ein u n sichtbares Tablett. Wir tauschen neugierige Blicke. Ist es ein Spiel oder ist die arme Alte wir k lich übergeschnappt? Sie hält mir das vermeintliche Tablett hin.
»Mary, Liebes, sei nicht so schüchtern. Nimm ein Stück. Du trägst dein Haar anders. Es steht dir.«
Felicity nickt, drängt mich mitzuspielen.
»Danke, Mutter Elena.«
»Und wo ist unsere muntere Sarah heute?«
»Unsere Sarah?«, stammle ich.
Felicity springt in die Bresche. »Sie übt das Za u bern, das sie bei dir gelernt hat.«
Mutter Elena runzelt die Stirn. »Das sie bei mir gelernt hat? Mutter befasst sich nicht mit solchen Dingen. Nur mit Kräutern und Zauberformeln für Liebe und Schutz. Du meinst sie.«
»Sie?«, wiederhole ich.
Mutter Elena flüstert: »Die Frauen, die in den dunklen Wald kommen. Und euch ihre Kunst lehren. Die Orden s schwestern. Das bringt nichts Gutes. Mary, lass dir das g e sagt sein.«
Wir bauen ein Kartenhaus. Eine falsche Frage kann den ganzen Turm zum Einsturz bringen, bevor wir die Spitze erreicht haben.
»Woher weißt du, was für Dinge sie uns lehren?«, frage ich.
Die alte Frau tippt sich mit einem knorrigen Finger an den Kopf. »Mutter weiß. Mutter sieht. Sie sehen die Z u kunft und die Vergangenheit. Sie formen sie.« Sie beugt sich zu mir. »Sie sehen die Geisterwelt.«
Der ganze Raum dreht sich um sich selbst, wird unscharf und dreht sich wieder zurück. Obwohl die Nacht kalt ist, rinnt mir der Schweiß am Hals hinu n ter und tränkt meinen Kragen. »Meinst du das Mag i sche Reich?«
Mutter Elena nickt.
»Kannst du das Magische Reich betreten, Mutter?«, fr a ge ich. Die Frage hallt in meinen Ohren w i der. Mein Mund ist trocken.
»O nein. Nur einen Blick darauf erhaschen. Aber du und Sarah, ihr wart dort, Mary. Meine Carolina hat mir gesagt, ihr habt ihr duftendes Heidekraut und Myrte aus dem Ga r ten dort mitgebracht.« Mutters Lächeln schwindet. »Aber es gibt noch andere Orte. Die Wi n terwelt. Oh, Mary, ich habe Angst vor dem, was dort lebt … Angst um Sarah und dich …«
»Ja, was ist mit Sarah …« , hakt Felicity ein.
Mutter Elena runzelt wieder die Stirn. »Sarah ist eine Unersättliche. Sie will mehr als Wissen. Sie will Macht, o ja. Wir müssen Sarah davon abhalten, den falschen Weg einzuschlagen, Mary. Halte sie von der Winterwelt und den dunklen Wesen, die dort leben, fern. Ich fürchte, sie wird sie herbeirufen, sie an sich binden. Und es wird ihren Geist verderben.«
Sie tätschelt meine Hand. Ihre Haut fühlt sich an meinen Fingerknöcheln rau und rissig an. Ich habe das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Es kostet mich große Anstrengung, die nächste Frage zu
Weitere Kostenlose Bücher