Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Januar 2010
D er Wind kräuselte die Wasseroberfläche, die blaugrau aufblitzte, wo ein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbrach.
Natascha kramte in den Hosentaschen ihrer Shorts nach einem Haargummi, den sie sich zwischen die Zähne klemmte, während ihre Hände versuchten, das wild um ihren Kopf wehende Haar zu einem Pferdeschwanz zu bändigen. Als die Brise für einen Moment abflaute, gelang es ihr endlich. Alan hatte ihrem Kampf gegen den Wind amüsiert zugesehen. Er saß ihr gegenüber, eine Dose Bier in der Hand. Mitch stand am Steuer, sein Haar verschwand ganz unter einer dünnen Wollmütze, die Augen verbarg er hinter einer monströsen Sonnenbrille. Sie fuhren mit Alans Tauchboot nach Palm Island. Alan hatte sich einen Tag freigenommen und Natascha angeboten, sie auf die Insel zu bringen, auf der ihre Großmutter als Kind ein Jahr lang gelebt hatte, bevor sie von dem Berliner Missionarsehepaar adoptiert und vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Deutschland gebracht worden war. Natascha war gar nicht klar gewesen, wie nahe dieses Palm Island lag, als sie den Tauchkurs gebucht hatte, aber man konnte die einstige Missionsinsel von Magnetic Island aus sogar sehen.
Natascha hatte sich über das Angebot, gemeinsam mit dem Tauchboot rauszufahren, mehr gefreut, als sie zeigen wollte. Alan hatte auch vorgeschlagen, Mitch mitzunehmen, der die Insel und ihre Bewohner viel besser kannte. Das versprach mehr Aussicht auf Erfolg, als wenn sie sich allein auf den Weg gemacht hätte. Ganz abgesehen davon wäre es auch viel umständlicher gewesen, denn die Fähre nach Palm Island ging nur vom Festland ab. Sie hätte also zuerst zurück nach Townsville gemusst. Mitch drehte sich zu ihnen um.
»Ich glaube nicht, dass wir’s bei dem Wind in unter zwei Stunden schaffen. Macht aber nichts. Hauptsache, wir treffen Onkel Charlie noch vor vier.«
»Hat er danach was vor?«, fragte Natascha.
Mitch lachte kurz auf, hob seine Bierdose hoch und tippte mit dem Zeigefinger dagegen.
»Um vier macht das Insel-Pub auf, und dann kannst du Onkel Charlie für den Rest des Tages vergessen.«
»Alkoholprobleme?«
»Mein Onkel? Die halbe Insel säuft.«
Natascha zog die Stirn in Falten.
»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
»Nur einen? Schön, wenn’s so wäre. Wie erkläre ich dir nur Palm Island?« Mitch kratzte sich mit dem Zeigefinger hinterm Ohr. »Angefangen hat es jedenfalls damit, dass ein paar weiße Männer vor rund hundert Jahren dachten, diese Insel wäre prima, um eine Menge störender Aborigines loszuwerden.«
»Warum wollten sie das?«, fragte Natascha. Mitch klang bitter.
»Auch dafür gibt es mehr als nur einen Grund. Hauptsächlich wollten die Siedler unser Land. Wer sich widersetzte, wurde kurzerhand verschleppt. Besonders unliebsame Schwarze brachte man nach Palm Island, wo man vor ihnen sicher war. Aborigines aus ganz Australien haben sie hier zusammengepfercht, Menschen, die nicht einmal dieselbe Sprache teilten.«
Natascha schaute betroffen zu Boden. Es war ihr unangenehm, dass sie so wenig von der Geschichte der Aborigines wusste. Aber sie war ja hier, um zu lernen.
»Nimmst du ihnen ihr Land, raubst du ihnen die Seele«, sagte Mitch. Natascha nickte, das immerhin hatte sie bereits verstanden. Sie schwiegen eine Weile.
»Wenn Palm Island so etwas wie eine Gefängnisinsel war, was hatte dann meine Großmutter dort verloren? Sie war doch nur ein kleines Mädchen.«
»Die Weißen haben eben alles auf die Insel verfrachtet, was ihnen ein Dorn im Auge war. Halbblutkinder zum Beispiel oder Frauen, die sich von einem weißen Mann haben schwängern lassen. Ganz nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. So mussten sie keine unangenehmen Fragen beantworten.«
»Und die Mission? Gab es die, damit sich jemand um diese Frauen und Kinder kümmerte?«
»Wenn du das kümmern nennen willst … Die Kirchen …«, Mitch schnaufte verächtlich, »ach, hör mir doch mit denen auf. Was uns Aborigines anbelangt, haben die sich bestimmt nicht mit Ruhm bekleckert.«
Der Wind blies ihnen jetzt kräftig ins Gesicht, und Mitch wandte sich wieder ganz dem Steuer und den Bordinstrumenten zu. »Du wirst ja gleich selbst sehen, was die weißen Männer und ihre Kirche mit meinen Leuten angestellt haben«, rief er ihr noch über die Schulter zu.
Alan setzte sich neben Natascha, damit er nicht gegen den Wind anbrüllen musste.
»Wirst du seekrank? Das sind nämlich locker über zwanzig Knoten, so wie das Boot
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