Der gelbe Tod
zwölf Uhr schlagen. Ungefähr um Mitternacht muß ich dann eingeschlafen sein, denn ich kann mich nicht erinnern, daß ich die Glocken danach noch gehört habe. Ich hatte das Gefühl, daß ich gerade erst die Augen zugemacht hatte, als ich träumte, daß irgend etwas mir befahl, zum Fenster zu gehen. Ich erhob mich, öffnete das Fenster und lehnte mich hinaus. Die Fünfundzwanzigste Straße war, soweit ich sehen konnte, verlassen. Ich begann, mich zu fürchten. Draußen schien alles so schwarz und ungemütlich. Dann drang das entfernte Geräusch von Räderrollen an meine Ohren, und mir schien, daß es das war, worauf ich wartete. Sehr langsam kam der Wagen näher, und endlich konnte ich ein Gefährt ausmachen, das die Straße herunterkam. Es näherte sich, und als es unter meinem Fenster vorüberfuhr, sah ich, daß es ein Leichenwagen war. Ich zitterte vor Angst, und da drehte sich der Kutscher um und sah mir genau in die Augen. Als ich aufwachte, stand ich am geöffneten Fenster und zitterte vor Kälte, aber der mit schwarzen Federbüschen geschmückte Leichenwagen und der Kutscher waren verschwunden. Dieser Traum wiederholte sich im letzten März, und wieder wachte ich neben dem Fenster auf. Letzte Nacht kehrte der Traum wieder. Du erinnerst dich, daß es regnete. Als ich am offenen Fenster erwachte, war mein Nachthemd vollkommen durchnäßt.«
»Aber welche Rolle habe ich in dem Traum gespielt?« fragte ich.
»Du – du lagst in dem Sarg, aber du warst nicht tot.«
»In dem Sarg?«
»Ja.«
»Und woher wußtest du das? Konntest du mich sehen?«
»Ich wußte nur, daß du da warst.«
»Hattest du etwas schwer Verdauliches gegessen?« fragte ich lachend, aber das Mädchen unterbrach mich mit einem Ausruf des Schreckens.
»Nanu! Was ist los?« fragte ich, als sie vom Fenster zurückschreckte.
»Der Mann unten im Kirchhof – er lenkte den Leichenwagen.«
»Unsinn«, sagte ich, aber Tessies Augen waren schreckgeweitet. Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Der Mann war verschwunden. »Komm, Tessie«, drängte ich, »sei nicht dumm. Du hast zu lange gearbeitet, du bist nervös.«
»Glaubst du, ich könnte dieses Gesicht vergessen«, murmelte sie. »Dreimal sah ich den Leichenwagen unter meinem Fenster vorüberfahren, und jedes Mal drehte sich der Kutscher um und sah zu mir herauf. Oh, sein Gesicht war so weiß und – und schwammig? Es sah tot aus. Es sah aus, als sei es schon lange tot.«
Ich überredete das Mädchen, sich hinzusetzen und ein Glas Marsala zu trinken. Dann setzte ich mich neben sie und redete ihr gut zu.
»Paß auf, Tessie«, sagte ich, »du fährst ein paar Wochen aufs Land, dann wirst du keine Träume von Leichenwagen mehr haben. Du stehst den ganzen Tag Modell, und abends sind deine Nerven angespannt. So kann es nicht weitergehen. Und dann gehst du noch, anstatt zu schlafen, wenn du dein Tagwerk vollbracht hast, zum Picknick in den Sulzer Park, ins Eldorado oder nach Coney Island, und wenn du dann am nächsten Morgen hier auftauchst, bist du vollkommen ausgelaugt, Es gab keinen wirklichen Leichenwagen. Das war nur ein böser Traum.«
Sie lächelte schwach.
»Was ist mit dem Mann im Kirchhof?«
»Das war nur ein gewöhnlicher, kränklicher, alltäglicher Mensch.«
»So wahr mein Name Tessie Reardon ist, schwöre ich, daß das Gesicht des Mannes unten im Kirchhof das Gesicht des Mannes ist, der den Leichenwagen lenkte.«
»Und wenn schon«, sagte ich, »es ist ein ehrliches Geschäft, die Leichenbestatterei.«
»Dann glaubst du also, daß ich den Leichenwagen gesehen habe?«
»Nun«, sagte ich diplomatisch, »wenn du ihn wirklich gesehen hast, dann ist es nicht unwahrscheinlich, daß der Mann dort unten ihn lenkte. Es ist gar nichts dabei.«
Tessie erhob sich, zog ein duftendes Taschentuch hervor und nahm aus einem Knoten im Saum ein Stück Kaugummi, das sie in den Mund steckte. Als sie ihre Handschuhe angezogen hatte, reichte sie mir die Hand und ging mit einem freundlichen: »Gute Nacht, Mr. Scott« hinaus.
II
Am nächsten Morgen brachte mir Thomas, der Hauspage, den Herald und ein paar Neuigkeiten. Die Kirche nebenan war verkauft worden. Ich dankte dem Himmel dafür. Nicht, daß ich einen Widerwillen gegen die christliche Gemeinde nebenan hatte, ich bin schließlich katholisch, sondern weil meine Nerven zerrüttet waren durch einen plärrenden Prediger, dessen Worte durch das Kirchenschiff hallten, als würden sie in meinem eigenen Zimmer gesprochen, und der mit einer nasalen
Weitere Kostenlose Bücher