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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Sessel zurück, von wo aus ich beide gut im Blick hatte. Tyler setzte sich in Pose, was er aber nicht lange durchhielt. Er und Javid hatten sich viel zu erzählen. Ich lauschte ihrem Gespräch und versuchte sie mit Feder und Tusche aufs Papier zu bannen.
    Zeichnen war nicht unbedingt eine meiner Stärken. Ich malte lieber und hatte die Feder arg vernachlässigt. Mit Pinsel und Farbe konnte man kleine Fehler leicht wieder ausmerzen, aber jeder Tuschestrich saß, wo er war.
    Nach anfänglicher Unsicherheit wurde ich immer mutiger. Ein Blatt nach dem anderen verschwand in meiner Mappe. Tylers Gesicht war einfacher zu zeichnen als Javids, weil es markantere Züge hatte. Seine Augen lagen eng beieinander und die Nase war schief, wahrscheinlich hatte er sich irgendwann einmal das Nasenbein gebrochen. Tyler hatte einen harten Mund mit einem bitteren Zug auf den Lippen. Meine Porträtzeichnungen hatten große Ähnlichkeit mit ihm, einfach, weil es leicht war, sein Wesen zu erfassen.
    Javid dagegen war viel hübscher. Seine Gesichtszüge wirkten beinahe symmetrisch und durch die großen Augen und seine vollen Lippen sah er auf jedem Blatt aus wie ein Mädchen, wenn ich mein Werk kritisch betrachtete.
    Wir hörten andere CDs. Eine Zeit lang drangen Männerstimmen aus der Küche, aber dann war es wieder still im Haus. Ich zeichnete und die Jungs erzählten. Natürlich lauschte ich auch.
    Irgendwann stand Alisha in der Tür wie ein Geist. Ihr Blick wanderte von Tyler über Javid zu mir und wieder zu Tyler zurück.
    Â»Hi, Baby«, sagte Tyler, »komm doch rein.« Er sprang auf und zog sie an der Hand zu sich aufs Bett. »Tut mir Leid, aber ich hab ganz vergessen, dass ich dich abholen sollte. Javid und ich, wir hatten uns so viel zu erzählen.«
    Javid stand auf. »Schieb mich nicht vor, Tyler. Verabredungen mit seiner Freundin vergisst man nicht so einfach. Wozu hast du deine schicke Uhr?«
    Verdutzt über die Rüge seines Freundes starrte Tyler auf seine blinkende Armbanduhr. »Ach, verdammt noch mal, jetzt ist sie ja schließlich hier. Lass uns zusammen irgendwo was trinken gehen, okay?«
    Javid zog mich am Handgelenk aus dem Sessel, dabei fielen sämtliche Zeichenblätter aus meiner Mappe und verteilten sich auf dem Fußboden. Alisha bückte sich als Erste, um sie aufzuheben. Nachdenklich starrte sie auf ein besonders gelungenes Porträt von Tyler. Mit überheblichem und gleichzeitig unsicherem Blick sah er ihr vom Blatt entgegen.
    Â»Kann ich das behalten?«, fragte Alisha. »Es gefällt mir.«
    Â»Es gehört dir«, sagte ich und kniete nieder, um die restlichen Blätter aufzusammeln. Javid half mir dabei. Ich verstaute die Mappe in meiner Tasche und sah Javid abwartend an.
    Â»Gehen wir?«, fragte er.
    Ich nickte.
    Â»He, was ist nun mit uns?«, brauste Tyler auf. »Ich dachte, wir wollten was trinken gehen.«
    Â»Ich muss nach Hause«, sagte Javid. »Hab meiner Mutter versprochen ihr noch was zu helfen.«
    In einer enttäuschten Geste breitete Tyler die Hände aus. »Na dann eben bis morgen«, sagte er. »Wirst du am Vormittag in deinem Schuppen sein?«
    Javid nickte. »Ja, wir werden dort sein.« Wir brauchten nur um drei Straßenecken zu fahren, dann waren wir wieder vor dem Motel. Das Auto meines Vaters stand noch nicht da und ich war froh darüber.
    Â»Isst du mit uns?«, fragte Javid, als ich ausstieg.
    Â»Wenn deine Mutter nichts dagegen hat.«
    Â»Warum sollte sie?«
    Javid war irgendwie verstimmt und ich wusste nicht, warum. Diesmal hatte er mir wirklich zur Seite gestanden in Tylers Gegenwart. Ich war mir sicher, dass er seiner Mutter keine Hilfe versprochen hatte, sondern deshalb nicht mit Tyler einen trinken gegangen war, weil ich nicht mitgekonnt hätte. Javid wollte vermeiden, dass ich Ärger bekam.
    Â»Ich will euch nicht zur Last fallen«, sagte ich.
    Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das kannst du gar nicht, Copper.« Er beugte sich zu mir herüber und küsste mich. Es war ein wilder, beinahe verzweifelter Kuss, bei dem er sich an mir festhielt, als würde es ihn sonst ins Nirgendwo treiben. »Ich hol dich, okay?« Er wartete meine Antwort nicht ab und ging einfach.
    Ich stand da und wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte.
    Oben in meinem Zimmer sah ich neugierig in den Spiegel. Dieser Kuss von Javid war anders gewesen als

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