Der gestohlene Abend
haben oder Auskunft über seine Person geben konnten. Aus einer Liste von Namen geht hervor, dass David offenbar noch sehr viel weiter gehende Pläne hatte.«
Marian schaute kurz auf und machte eine Pause. Dann fuhr sie fort:
»Einerseits wollte er mit seiner aberwitzigen Aktion auf einen Schlag ein möglichst großes Medieninteresse für De Vanders Artikel aus Le Soir provozieren. Aber das war nur ein Teil seiner Strategie. Soweit wir das aus seinen Notizen rekonstruieren können, wollte er die Suche nach ähnlichen Fällen auf alle Universitäten ausweiten. Es ist bestürzend, schockierend. Davids Notizen zeugen von nichts mehr und nichts weniger als von der Vorbereitung zu einer Hexenjagd.«
Es wurde unruhig im Saal. Marian stockte. Professor Barstow hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er erhob sich und ergriff das Wort.
»Bei allem Respekt, werte Kollegin. Wenn der Begriff Hexenjagd hier überhaupt fallen sollte, dann im Kontext der Artikel Jacques De Vanders und der Pogromstimmung, in deren Dienst er seine Stimme gestellt hat. Wir sind nicht gekommen, um etwas über die privaten Aufzeichnungen eines tragisch verunglückten Studenten zu erfahren, die zudem außer Ihnen niemand gesehen hat. Hier stehen ganz andere Texte zur Diskussion. Ich bitte Sie, endlich zur Sache zu kommen.«
Es schien, als hätte ein Teil des Publikums nur auf diesen Einwurf gewartet. Sofort entstand Tumult. Der Applaus einer wie mir schien schüchternen Minderheit wurde zunächst von lauten Buhrufen übertönt. Doch allmählich gewann der Applaus für Barstow die Oberhand. Es war eine Abstimmung per Akklamation, wobei ich nicht hätte sagen können, wo die Mehrheit im Augenblick wirklich lag. Selbst in meiner nächsten Umgebung war die Lage alles andere als eindeutig. Winfried hatte sich erhoben und applaudierte laut, während Theo konsterniert vor sich hin blickte. Und dann geschah etwas, das mich völlig aus der Situation riss. Eine der beiden Türen am rechten unteren Saalende öffnete sich und drei Personen traten ein. Zwei Techniker in Arbeitskleidung - und Janine.
Kapitel 61
Sie fand irgendwo noch einen freien Fleck und hockte sich zwischen die anderen Studenten, die dort auf dem Boden saßen. Marian hatte mehrfach versucht, den Faden ihrer Rede wieder aufzunehmen, wurde jedoch durch lebhafte Diskussionen immer wieder unterbrochen.
»Mein Damen und Herren«, rief Dekan Delany und wandte sich mit erhobenen Armen dem Publikum zu. »Für Fragen und Diskussionen ist nach den Vorträgen noch ausreichend Zeit. Dürfte ich Sie bitten, einen zivilisierten Fortgang dieser Pressekonferenz zu ermöglichen und Ihre Emotionen im Zaum zu halten.«
Marian begann wieder zu sprechen, aber die Stimmung im Saal war gegen sie umgeschlagen. Niemand interessierte sich mehr für die gewundene Vorgeschichte dieses Dokumentenfunds und die Rolle, die David in der ganzen Angelegenheit gespielt hatte. Marian schien zu spüren, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte.
Sie kam rasch zum Schluss und erklärte, dass eine ernsthafte und seriöse Diskussion der Angelegenheit im Augenblick weder möglich noch sinnvoll sei. Erst müssten alle Dokumente gefunden und ausgewertet werden. Der Sachverhalt sei in jedem Fall zu komplex, um die inhaltliche Debatte darüber in der Presse zu führen. Es zeichne sich ja bereits ab, dass hier nur eine groteske Wiederholung der Angelegenheit mit umgekehrtem Vorzeichen zu erwarten sei.
Der tiefere Sinn ihres letzten Satzes wurde mir erst nach einigen Sekunden klar. War Marian übergeschnappt? Sollte die Presse vielleicht daran schuld sein, dass De Vander als junger Mensch einer populistischen und unmenschlichen Ideologie aufgesessen war? Hatte Marian es nötig, wie ein Winkeladvokat zu argumentieren? Ihr Schlusssatz führte wieder zu Unruhe im Publikum. Doch Marians Fazit war nur ein Vorgeschmack auf das, womit Holcomb nun seinen Vortrag begann. Er hatte Marian auf der Bühnentreppe gratulierend auf die Schulter geklopft und war dann sofort ans Rednerpult getreten.
»De Vander leichtfertig zu verurteilen«, so begann er, nachdem halbwegs wieder Ruhe eingekehrt war, »heißt nichts anderes, als die Geste der Vernichtung zu wiederholen.«
The gesture of extermination. Mein Blick wanderte unwillkürlich zu Ruth Angerston, die mit Doris in der der dritten Reihe schräg hinter John Barstow saß. Ich sah auch, dass Barstow sich sofort zu ihr umdrehte, als wolle er ihren Einsatz nicht verpassen. Aber Ruth schüttelte nur
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