Der gestohlene Abend
Holcomb erhielt keine Möglichkeit, weiter öffentlich darüber nachzudenken. Dem Tumult, der jetzt entstand, konnte auch der Dekan nicht mehr Herr werden. Wütende Protestrufe erklangen. Winfried war außer sich und wusste sich nicht mehr anders zu helfen als durch Pfeifen. Theo schüttelte den Kopf, ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen. Barstow hatte sich erhoben, diesmal allerdings nicht, um zu sprechen, sondern um zu gehen. Auch Ruth Angerston verließ ihren Platz und bahnte sich mit eisiger Miene ihren Weg zum Ausgang. Holcomb sprach noch einen Satz ins Mikrofon, der allerdings vom Lärm des allgemeinen Aufbruchs verschluckt wurde.
Einige Augenblicke lang hatte ich Janine noch in der Menge vor der Bühne gesehen. Sie stand in einer Menschentraube zwischen Holcomb und einer Gruppe ihn bestürmender Journalisten. Wenige Augenblicke später war sie bei Marian. Sie wechselten ein paar Worte. Dann öffneten sich die Bühnenausgänge. Ich ärgerte mich, dass ich noch immer hier oben stand. Durch den Saal war kein Durchkommen. Ich lief durch die Vorhalle nach draußen. Ich brauchte einige Minuten, bis ich um das Gebäude herumgegangen und am westlichen Bühnenausgang angekommen war. Aus allen Eingängen strömten jetzt die Besucher, teils in hitzige Diskussionen verwickelt, teils konsterniert schweigend. Der Eingang, durch den Janine zuvor den Saal betreten hatte, war weit geöffnet. Überall standen Leute herum. Ich drängelte mich an ihnen vorbei und wieder in das Auditorium hinein. Marian, Holcomb und die anderen waren gerade im Begriff, es durch den gegenüberliegenden Ausgang zu verlassen. Janine war bei ihnen. »Janine!«
Sie drehte sich um. Marian hatte meine Stimme auch gehört. Sie wandte den Kopf, schaute mich kurz an, ging jedoch weiter. Janine blieb stehen. Ich ging auf sie zu, während die anderen sich entfernten.
»Was ist?«, fragte sie, als ich bei ihr angekommen war.
»Ich muss mit dir reden.«
»Worüber?« Sie machte eine abfällige Geste in das Auditorium hinein. »Darüber? Bist du jetzt zufrieden?«
»Kann ich dich sprechen? Bitte.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann dich nicht mehr sehen, Matthew.«
»Warum? Deshalb? Das kann nicht dein Ernst sein, Janine.«
Heftig diskutierende Studenten gingen an uns vorbei. Die Gesprächsfetzen aus ihren Unterhaltungen füllten das Schweigen zwischen uns aus. Das Wort Linksfaschisten fiel. Janine hob die Augenbrauen.
»Und. Bist du jetzt stolz auf deine Fakten?«
Sollte ich mich für die dummen Bemerkungen anderer rechtfertigen? Ihre Augen glitten an mir herunter wie an einem Gegenstand.
»Du widerst mich an, Matthew.«
Kapitel 62
Auf dem Nachhauseweg bekam ich Kopfweh und spürte ein Kratzen im Hals. Ich nahm eine Tablette und legte mich hin. Als ich wieder aufwachte, war ich schweißgebadet und fröstelte. Ich trank eine Flasche Wasser und legte mich wieder hin. Ich blieb die ganze Nacht und auch den ganzen nächsten Tag im Bett. Mehrmals klingelte das Telefon, aber ich nahm nicht ab. Ich kochte eine Nudelsuppe mit Instant-Fleischbrühe, aß sie mit Heißhunger, ging dann sofort wieder ins Bett und schlief bis zum nächsten Morgen. Erst dann fühlte ich mich ein wenig besser. Die Erkältung hatte den üblichen Weg eingeschlagen. Meine Nase war verstopft, und ich hustete, dafür waren die Gliederschmerzen und das Kopfweh im Abklingen. Ich duschte, frühstückte Ice Tea und ein paar alte Kekse und hörte die fünf Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Winfried lud mich für Freitagabend zum Essen ein. Theo und Gerda wollten auch kommen. Wenn er nichts von mir höre, gehe er davon aus, dass ich kommen würde. Theo hatte ohne besonderen Grund angerufen und wollte wissen, was ich gerade so machte. Die nächste Nachricht hatte offiziellen Charakter. Es war Catherine, Marians Sekretärin. Sie teilte mir mit, Marians Seminar sei bis auf Weiteres ausgesetzt. Ich solle meine Hausarbeit wie besprochen schreiben und bis spätestens 15. Februar einreichen. Einige Anmerkungen zu meiner Bibliografie habe Marian in meinem Postfach deponiert. Ein Termin für die Besprechung der Arbeit würde mir noch mitgeteilt. Die vierte Botschaft stammte wieder von Theo. Ich sollte doch mal zurückrufen. Die fünfte Nachricht war von John Barstow: »Hallo Matthew. Ich hoffe, Sie hatten schöne Weihnachtsferien. Ich hatte gedacht, Sie würden bei mir im Büro vorbeikommen. Vielleicht haben Sie die Tage mal eine halbe Stunde Zeit, ich würde mich freuen.
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