Der Gladiator
wandte den Blick zur Kaiserloge. Der Prinzeps hing teilnahmslos in seinem Sessel, er würdigte die Gladiatoren, die jetzt zum Kampf um ihr Leben antraten, kaum eines Blickes. Doch dann machte Vitellius eine Entdeckung, die ihn erschauern ließ. Der Platz neben dem Kaiser, auf dem vorher Messalina gesessen hatte, war leer.
Fragen schossen durch seinen Kopf: Warum war sie, die diesen Kampf offensichtlich gewünscht hatte, auf einmal verschwunden? Wollte sie seinen Tod nicht mitansehen? – Vitellius konnte sich Messalinas Abwesenheit nicht erklären. Da ertönte die durchdringende Stimme des Instruktors und gab das Kommando zum Kampf.
Die beiden Retiarier ließen ihre Fangnetze über den Köpfen kreisen, Vitellius etwas schneller als Pugnax. Das fachkundige Publikum registrierte dies mit Interesse. Der schneller drehende Gladiator konnte schneller reagieren, der langsamere hingegen hielt länger durch. Letzteres konnte bei einem Kampf gleichwertiger Gegner die Entscheidung herbeifuhren.
Es war merklich stiller geworden in der Arena. Die Stimmung wuchs: »Kämpft!« hörte Vitellius von weitem die Stimme des Instruktors; aber er ließ sein Netz kreisen, als hörte er es nicht. Jetzt galt es Ruhe zu bewahren. Ein vorzeitiger Netzwurf, der nicht sicheren Erfolg versprach, konnte das vorzeitige Ende bedeuten. Abwarten. Zurückhalten. Lauern.
Gleich würde das Kommando für die Auspeitscher kommen. Durchhalten, ermahnte sich Vitellius. Langsam, beinahe unmerklich, kam Pugnax näher. Vitellius ging vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend nach links. Irritiert wich Pugnax einen Schritt zurück. Er war gewöhnt, daß Vitellius nach rechts auswich. Der Jüngling registrierte die Unsicherheit seines Gegners, setzte sofort einen Schritt nach, blieb aber dann stehen, eingedenk der Ratschläge seines Trainers, seinen Erfolg so lange in der Verteidigung zu suchen, bis sich ihm eine Chance bot.
Da – ein Knall. Die Netze der Gladiatoren hatten sich im Flug berührt. Beide wichen einen Schritt zurück, sie setzten ihre Drehbewegungen fort. Pugnax sprang vor, stieß seine Rechte mit dem Dreizack auf den Gegner. Vitellius sah die auf seinen Hals gerichteten Spitzen kommen, machte, wie so oft im Training geübt, einen seitlichen Schritt nach vorne und ließ damit die Stoßbewegung seines Gegners ins Leere gehen. Doch während Vitellius für gewöhnlich die kurze Pause zum Sammeln benutzte, um sich auf einen neuen Angriff seines Gegners einzustellen, setzte er diesmal, kaum daß Pugnax an ihm vorbeigestoßen hatte, nach, rammte dem Gladiator seinen Dreizack in die linke Schulter. Der schrie vor Schmerz auf, drehte sich um. Vitellius sah, daß seine Waffe eine tiefe Wunde gerissen hatte. Blut rann über den Brustkorb des Pugnax. Toben auf den Rängen: »Habet! Er hat ihn getroffen!«
Die Drehbewegungen mit dem Netz mußten Pugnax große Schmerzen bereiten. »Er wird eine schnelle Entscheidung suchen«, dachte Vitellius, »er hält das nicht lange durch. Die Zeit arbeitet jetzt für mich. Ich will siegen. Ich werde siegen. Ich habe so oft gegen ihn verloren, heute werde ich ihn töten!«
Es schien, als würden die Drehbewegungen des Pugnax langsamer; er kam unmerklich näher. Vitellius wich wiederum nach links aus. Aber diesmal war Pugnax darauf gefaßt. In demselben Rhythmus, wie Vitellius den rechten über den linken Fuß setzte, stellte Pugnax seinen linken über den rechten.
»Steche ihn nieder, Vitellius!« schallte es von den oberen Rängen. »Laß deinen Dreizack fliegen!« Sprechchöre bildeten sich erst zaghaft, dann immer stärker werdend: »Vitellius! Vitellius!«
»Sie schreien deinen Namen, nicht den des Pugnax«, schoß es durch seinen Kopf. »Du bist drauf und dran zu siegen. Du kannst Pugnax besiegen. Er wird langsamer. Er muß furchtbare Schmerzen haben. Wie lange wird er noch durchhalten? Mut, du mußt Mut haben. Du hast noch nie einen Menschen getötet. Aber heute, heute mußt du es tun. Tust du es nicht, tötet er dich. Du willst doch ein neues Leben anfangen. Heute beginnt es. Wie lange er wohl noch durchhält? Angreifen? Nein. Durchhalten. Kreisen. Blut, er hat schon viel Blut verloren. Warum macht er nicht schlapp? Doch angreifen? Nein. Warten. Lauern. Kreisen. Ausweichen. Jetzt, da – er läßt nach. Läßt das Fangnetz sinken. Beim Jupiter, er läßt das Netz hängen. Jetzt. Du mußt es tun. Tu's doch. Tu's! Wirf das Netz über seinen Kopf! Stich zu! Tu's! Warum tust du's nicht? Er ist am Ende.
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