Der Glanzrappe
Trennung, die sich gerade vollzog.
Sie legte den Kopf schief, blinzelte und musterte ihn weiter. Sie schien zu überlegen, woher sie ihn kannte, und er hatte das Gefühl, ihr dies unbedingt sagen zu müssen. Er wollte sagen, ja, du kennst mich, aber er tat es nicht, erwiderte nur ihren Blick, und die Schuldgefühle, die für ihn mit dem gemeinsamen Erlebnis verbunden waren, standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Du hast gedacht, ich würde dich nicht wiedererkennen«, sagte sie schließlich und biß sich auf die Lippe. In ihren Worten schwang kein Vorwurf mit, und doch fühlte er sich wie auf der Anklagebank.
Er stand auf, zupfte verlegen an seiner Kleidung und ging dann ein paar Schritte von ihr weg zu einem Baum. Sie folgte ihm, und er hörte sie fragen: »Wer bist du? «
D ann wurde ihre Stimme lauter und aggressiver. »Du hättest ihn aufhalten können.«
»Ich konnte nichts tun«, sagte er, drehte sich um und schaute in ihr trauriges Gesicht. »Ich mußte meinen Vater suchen.«
Sie rührte sich nicht, glaubte ihm kein Wort.
Er versuchte verzweifelt, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, damit sie nicht schwach oder bittend klang. Er hatte nichts getan, um den Mann aufzuhalten, und sosehr er sich auch einredete, daß er auch gar nichts hätte tun können, so wußte er es jetzt doch besser, und dieses Wissen im nachhinein, das Wissen, das der Erfahrung folgt, brannte sich in ihn ein, und alles, was er vorher geglaubt hatte, war jetzt belanglos und der Erinnerung nicht wert. Er konnte nicht leugnen, daß ihn seit jener Nacht in dem kaputten Haus mit diesem Mädchen etwas verband. Er konnte nicht leugnen, daß es in seiner Macht gelegen hatte, den Mann aufzuhalten.
»Und ist es dir gelungen?«
»Was?«
»Deinen Vater zu finden.«
Sie hatte zu weinen begonnen, und ihre Tränen rannen seltsam glitzernd über das schmutzige Gesicht. Sie wischte sie nicht weg. Sie stand da in ihrem schwarzen Kleid, mit der Trommel an der Hüfte, als wäre sie die Beschuldigte.
»Nicht weinen«, versuchte er sie zu trösten, aber das machte sie nur noch wütender, und er spürte, daß alles, was er sagen konnte, in ihren Ohren dumm und wenig überzeugend klingen mußte.
»Ich weine gar nicht«, sagte sie, »es sind meine Augen.«
»Mein Vater liegt da unter dem sterbenden Baum«, flüsterte er und zeigte hinüber zum Glanzrappen, der in d er Morgensonne einen langen Schatten warf und die beiden beobachtete.
»Wie heißt du?« fragte sie.
» Robey .«
»Wirklich?«
»Ja. «
E r nickte.
»Wie alt bist du?« »Vierzehn.«
»Dich haben sie noch nicht zerbrochen, aber das kommt noch, und wenn es passiert, dann wirst du wissen, wie es für mich war. Was er mir angetan hat, würde kein Tier einem anderen antun.«
Er wollte ihr sagen, daß man ihm in den Kopf geschossen hatte und seinem Vater auch. Er wollte ihr sagen, daß sie auch ihn schon zerbrochen hatten und daß er trotzdem weiterlebte, aber daß sein Vater nicht so viel Glück haben würde. Diesen Gedanken hatte er sich bis jetzt verboten, und er merkte, wie etwas in ihm zerfiel, eine Struktur, die ihm Halt gegeben hatte, und der Gedanke ließ seine Augen brennen.
»Wie heißt du?« fragte er zurück.
»Rachel«, sagte sie, »wie im Buch Mose.«
»Wie alt bist du?« fragte er.
»Fünfzehn.«
»Man sollte zweimal geboren werden«, sagte er.
»Ich wäre lieber gar nicht geboren worden«, erwiderte sie bitter.
»Wie konnte er so was tun?« fragte er töricht, und ein Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als wäre das eine unglaubliche Frage, und er bereitete sich innerlich auf weitere Vorwürfe vor, doch ihre Wut war jetzt so groß, daß s ie es nicht mehr aushielt. Sie fing an zu zittern, und er wollte ihr vorschlagen, sich in den Schatten zu setzen und durchzuatmen, aber ihre Anwesenheit machte ihn so verlegen, daß er keine halbwegs sinnvollen Worte mehr fand.
»Er hält sich für etwas Besseres«, sagte sie. Sie hatte viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken und sich in ihrem Bemühen um Verstehen für diese Erklärung entschieden. »Er spricht immer davon, eine neue Seite aufzuschlagen, aber er wird sich nicht ändern, kein bißchen. Er hat Schlangen in den Taschen und wirft sie den Leuten hin. Er sagt, niemand kann ihn töten.«
Als sie das sagte, spürte er, wie sie wieder in sich selbst verschwand. Er war nicht mehr da. Es gab nur noch sie und diese Worte, die aber weder das, was geschehen war, erklären noch die Erinnerung daran verscheuchen
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