Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
modifizieren und zu veredeln, alles mit »natürlichen Dingen«, und jeder Lebende, der mit Vernunft lebt und insofern er sich fortpflanzt oder erhebliche Geistestaten übt, hat im strengsten Sinne des Wortes seinen bestimmten Anteil z.B. an der Ausbildung und Vergeistigung des menschlichen Gehirnes, seinen ganz persönlichen, wenn auch unmeßbaren Anteil.
Nur diesen Kreislauf können wir sehen und erkennen, und wir tun es; was darüber hinaus liegen sollte, das geht uns zunächst nichts an und darf uns nichts angehen; denn so erfordert es die große Ökonomie des Weltlebens und der Welterkenntnis. Sollte wider allen sinnlichen Anschein und alles sinnliche Gefühl ein übernatürliches geistiges Gottwesen der Urgrund der Natur und unser aller sein, so würde erst recht dieses Wesen selbst solche Ökonomie in die Welt gelegt und angeordnet haben, auf daß alles seinen Gang gehe und nichts vorweggenommen werde. Diese Ökonomie verlangt, daß wir an das Natürliche glauben, solange wir es nicht ausgemessen haben und mit unseren kleinen Schädeln an den Rand gestoßen sind, und sie ist es, welche uns zuruft Was wollet ihr aus der Schule laufen und suchet ein Verdienst darin, an das Übernatürliche zu glauben, welches der Tod des Natürlichen ist, solange eure kühnsten und erhabensten übernatürlichen Einbildungen und Vorstellungen noch tausendmal dunkler, ungewisser und kleiner sind als die natürlichen Wirklichkeiten, zu deren Erkenntnis und Begriff ihr ein sicheres Pfand in der Hand habt? Ist das Verdienst, Treue, Ausdauer und Weisheit? Nein, es ist Untreue, Feldflüchtigkeit und Torheit!
Dergleichen Dinge ließ der vortragende Lehrer, nicht in solchen Ausdrücken, aber mit solchen Eindrücken seine Zuhörer gelegentlich zwischen den Zeilen lesen. Heinrich gehörte zu denen, welche recht wohl zwischen den Zeilen zu lesen wußten, und zwar weil er einen natürlichen Sinn für das Erhebliche besaß, auf welches es ankommt, und mit der Aufmerksamkeit und dem raschen Instinkte der Autodidakten das Wesentliche ersah, das hinter den Dingen liegt. Er merkte auch bald, daß es sich um nichts Geringeres als um seinen Glauben an Gott und Unsterblichkeit handle; aber indem er denselben für lange geborgen und es nicht für nötig hielt, auf seine Rettung bedacht zu sein, war er um so freisinniger beflissen, alles aufzufassen und zu begreifen, was die innere Notwendigkeit, Identität und Selbständigkeit der natürlichen Dinge bewies; denn eine wahrhaft wahre und freie Natur steht nicht an, sondern sie sucht es geflissentlich, Zugeständnisse zu machen, wo sie nur immer kann, gleich jenem idealen Könige, der noch nie dagewesen ist und von welchem man träumt, daß er nicht aus Klugheit, sondern um ihrer selbst willen und rein zu seinem Vergnügen Konzessionen mache. Rechthaberei und Not sind die Mütter der Lüge; aber die Notlüge ist ein unschuldiges Engelskind gegenüber der Lüge aus Rechthaberei, welche eines ist mit Hochmut, Eitelkeit, Engherzigkeit und nackter Selbstsucht und nie ein Zugeständnis macht, eben um keines zu machen. So entstand aus der Lüge die Rechtgläubigkeit auf Erden und aus der Rechtgläubigkeit wieder die Lüge; freilich auch ein Kreislauf und eine Identität!
Heinrich freute sich im Gegenteile, im Namen seines liberalen und generösen Gottes jedes Fleckchen Welt einzuräumen, das sich selbst bewirtschaften konnte, und er gab sich redlich Mühe, ein festes Bewußtsein von solcher freien Notwendigkeit oder notwendigen Freiheit zu gewinnen, nicht zweifelnd, daß alles zur größeren Ehre Gottes geschehe wie des Menschen, dessen Ehre mit der größeren Selbständigkeit und Verantwortlichkeit wachsen mußte.
Er suchte sich daher auch außer den anthropologischen Stunden so gut als möglich zu unterrichten, und wie er z.B. durch die Lehre vom Auge zum ersten Male veranlaßt wurde, sich in das Wesen des Lichtes einen Blick zu verschaffen, dadurch in die unendlichen Räume der Außenwelt geführt ward und von da wieder in den selbstbewußten Punkt seines eigenen sehenden Auges zurückkehrte, so geschah es noch in manch anderer Hinsicht, und alles das ohne zu große Mühe noch Zeitaufwand. Die Ergebnisse der wahren Wissenschaft haben die gute Eigenschaft, daß sie sich auf den ersten Blick von allem Phantastischen und Willkürlichen unterscheiden und in kürzerer oder längerer Zeit zum überzeugenden festen Lehrsatz eignen ohne fortwährende Probe ihres besondern Rechenexempels. Der Satz, daß die
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