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Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Erste Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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Erde sich um die Sonne bewegt, wird in allen Kinderschulen gelehrt, und die Kinder nehmen ihn in ihr Wissen auf, ohne die physikalische Untersuchung seines Beweises anzustellen, während sie für ein einziges religiöses Dogma bis zu ihrer Mündigwerdung mit allem katechetischen Apparate unterwiesen werden, ohne am Ende mehr zu wissen als am Anfange und ohne wider den Zweifel

geschützt zu sein. Noch nie hat es einen Krieg gegeben wegen verschiedener Meinungen über Naturgesetze, weil ihre Art friedfertig, rein und genügend ist, und es gelang den Theologen nicht einmal, eine wehrbare Sekte für die stehende Erde oder zum Schutze der mosaischen Schöpfungsgeschichte auf die Beine zu bringen; Religionskriege aber wird es geben, solange es Priester, Dogmen und Bekenntnisse gibt. Im Kleinen schaut man diesen Vorgang alle Tage hat jemand eine gute Wahrheit oder Tatsache geäußert, und sie wird ihm angezweifelt, so fällt es ihm nicht ein, darüber aufgebracht zu werden und sich ins Zeug zu werfen; wenn derselbe Mensch aber eine Sache erzählt oder vorgibt, von der er doch nicht so recht überzeugt und überführt ist, so wird er alsobald in die größte Hitze geraten und Ehre, Gut und Leben verpfänden, am liebsten aber demjenigen gleich an den Kragen gehen, der ihm einen Zweifel entgegensetzt. Wenn ein Bauersmann sagt Ich habe das Korn besehen; es ist reif! der Nachbar aber erwidert Ich glaube nicht, daß es reif ist! so wird er ruhig sprechen Das ist Eure Sache! Ich halt es für reif und werde es schneiden!
    Wenn derselbe Bauer aber sagt Ich sah vergangene Nacht einen Geist auf meinem Markstein sitzen, und der Nachbar spricht Das ist nicht möglich, denn es gibt keine Geister! so wird der Bauer einen großen Lärm erheben, erstlich weil man ihm abstreitet, was er mit eigenen Augen gesehen haben will, zweitens weil man die Geister leugnet, und endlich weil man infolgedessen wohl gar nicht an ein »anderes Leben« und an eine Wiedervergeltung nach dem Tode glaubt. Ia, er wird deswegen vielleicht dem Nachbar gar nicht antworten, aber demselben nichts mehr vertrauen und allen Umgang mit ihm abbrechen; und doch hätte er als Bauer mehr Grund, jenem zu mißtrauen, welcher die Reife des Kornes nicht zu beurteilen weiß, da derselbe in seinen Augen notwendig ein schlechter Landwirt sein muß. Aber er tut dies im Grunde auch ganz gewiß; nur macht er kein Aufhebens davon und läßt es sich nicht anmerken, da er über die Sache klar und ruhig ist, da er sie übersieht und weiß, daß Zank die Wahrheit nicht ändert, das Korn nicht unreif macht und die Regeln des Ackerbaues nicht aufhebt. Sein Lärm gegen den Gespensterleugner hingegen ist ein blinder Lärm und Trotz, der mehr gegen sich selbst gerichtet ist, gegen die Dunkelheit und Unsicherheit des eigenen Bewußtseins über den kitzligen Punkt. Und so ist es von je gewesen, ist es und wird es sein. Jeder, der einem andern moralische oder physische Gewalt antut wegen dessen, was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht weiß, gibt mit jedem Gewaltstreiche sich selbst eine Ohrfeige, und dieser geheime Übelstand verleiht solchem Streite den schmerzlichen, bitterlichen und fanatischen Charakter, den Religionskriegen das vertrackte hypochondrische Ansehen.
    Ketzer braten ist ein durchaus hypochondrisches, trübsinniges Vergnügen, ein selbstquälerisches und wehmütiges Geschäft und gar nicht so lustig, wie es den Anschein hat.
    Heinrich faßte indessen alles Wissen, das er erwarb, sogleich in ausdrucksvolle poetische Vorstellungen, wie sie aus dem Wesen des Gegenstandes hervorgingen und mit demselben eines waren, so daß, wenn er damit hantierte, er die allerschönsten Symbole besaß, die in Wirklichkeit und ohne Auslegerei die Sache selbst waren und nicht etwa darüber schwammen wie die Fettaugen über einer Wassersuppe So waren ihm die beiden Systeme des Blutkreislaufes und der Nerven mit dem Gehirne, jedes in sich geschlossen und in sich zurückkehrend, wie die runde Welt, und doch jedes das andere bedingend, die schönsten plastischen Charakterwesen, welche ihm allezeit bewundernswert, geheimnisvoll und anlockend waren, ohne mystisch zu sein.
    Das schöne rote Blut, sicht-, fühl-und hörbar, unablässig umgetrieben und wandernd, gegenüber dem unbeweglichen, still verharrenden und farblosen Nervensystem, welches doch der allgegenwärtige und allmächtige Herr der Bewegung ist, mit geheimnisvoller Blitzesschnelle herrschend, während jenes in ehrlicher und handgreiflicher

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