Der Henker von Lemgo
Dann verzog
er zynisch die Mundwinkel und rief: »Sammelt die Männer! Wir müssen zu
Hermessens Haus. Die wahre Zauberin ist geflüchtet, die Hure hier sollte uns
nur ablenken.«
Der Kutscher schlug
auf die Pferde ein, als Catharina mit totenbleichem Gesicht heranwankte.
»Herrgott, warum bestrafst du uns so?«
Schluchzend kniete
sie sich neben Margaretha, um ihr aufzuhelfen, dann kroch sie auf allen vieren
zu der reglosen Ilsabein. Ihr Verstand wehrte sich verzweifelt gegen die
Vorstellung, dass sie tot sein könnte. Fassungslos befühlte sie die Blutlache
unter Ilsabeins Schulter und zupfte hilflos an ihren Kleidern.
»Steh auf, mein Kind«,
wimmerte sie. »Jetzt steh doch endlich auf!« Dabei drehte sie Ilsabein
vorsichtig auf den Rücken und zog sie an sich. Wie einen Säugling wiegte
Catharina sie in den Armen und legte immer wieder horchend das Ohr an ihre
Brust, bis Margaretha, die als Erste die Fassung wiedererlangte, sie weinend
berührte.
»Sie lebt noch,
Mutter! Wir müssen sie sofort zu Hermann bringen, bevor sie noch mehr Blut
verliert.« Sie packte Ilsabein entschlossen an den Schultern. »Nimm die Füße«,
gebot sie der Mutter. »Wir tragen sie in die Kutsche. Und bete zum Herrn, dass
Maria vor den Bütteln das Haus erreicht!«
Krachend und
quietschend fiel das Tor hinter ihr ins Schloss. »Schiebt den Riegel vor und
den Balken gleich hinterher«, herrschte Maria die erstaunten Knechte an, während
sie an der Barbierstube vorbei die Stufen zum oberen Stockwerk hinaufstürmte.
»Und schirrt mir die Pferde an! Ich brauche Wasser, Verpflegung und Decken!
Schnell!«
Aus einer der zwei
Stuben erklang Kindergeschrei. Maria stieß die Tür auf, schob die Kindermagd
zur Seite und riss die einjährige Agnes in ihre Arme. Aufschluchzend drückte
sie den Säugling an ihre Brust. Auf ihrer Flucht hatte sie gesehen, wie
Ilsabein gestürzt war. Doch wie ein gehetztes Reh, ohne sich noch einmal
umzusehen, war sie einfach weitergelaufen. Nun, mit dem zarten, hilflosen
Kinderkörper in ihren Armen, brach es schmerzlich aus ihr hervor: »Oh, mein
Kind! Meine kleine Agnes! Deine Tante Ilsabein ist für deine Mutter gestorben,
und der Herr wird mich für diese Sünde bis in alle Ewigkeit verfluchen.«
Die Magd, eine grobe
Landschönheit mit hervorstehenden Wangenknochen und kantigen, breiten Hüften,
war bei ihrem Anblick verstört aufgesprungen. Erschrocken suchten die drei
älteren Kinder Catharina, Ilsabe und Anton Schutz in den Falten ihrer Röcke.
Der zweijährige Junge begann lauthals zu weinen.
Die Angst ihres
Sohnes holte Maria in die Wirklichkeit zurück. Glücklich, wenigstens die Kinder
unversehrt zu sehen, küsste sie Anton überschwänglich seine rosigen Wangen. Als
er sich beruhigte, herrschte sie die Magd an: »Rasch, Berte, mach die Kinder
reisefertig. Wir brechen in Bälde auf!« Sie drückte ihr Agnes in die Arme und
hastete in die Diele hinunter, um den Knechten beim Anschirren zu helfen. Die
Magd folgte alsbald mit den Kindern und stieg mit ihnen in die gepolsterte
Kutsche. Maria hob den Arm und gab dem Knecht das Zeichen, das hintere Tor zu
öffnen. Alles geschah lautlos. Erst als der Fuhrknecht auf den Bock hinaufstieg
und energisch die Zügel anzog, zerrissen Schüsse die Stille. Sekunden später
klirrte Glas, und ein tödlich getroffener Hund jaulte.
»Sie haben Erich
erschossen«, flüsterte Maria erschrocken und dachte mit Wehmut an den getreuen
vierbeinigen Wächter. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg.
»Es bleibt uns nur
eine Chance. Wir müssen die Feinde überraschen und im Galopp durch sie
hindurchpreschen«, schlug der Kutscher, ein schmächtiger blonder Bursche, vor.
Da krachte es
ohrenbetäubend. Fäuste hämmerten gegen die Wände und das Tor. Entschlossen
erhob sich Maria. Hastig presste sie die Kinder ein letztes Mal an sich, dann
sprang sie die drei Stufen zurück in die Diele. »Fahr zu, Balthasar!«, gebot
sie dem Fuhrmann. »Lenk von mir aus die Pferde mitten durch sie hindurch, aber
bring mir die Kinder in Sicherheit!«
Der Junge nickte,
und Maria warf den Kindern eine Kusshand zu. »Halt sie ja gut fest!«, mahnte
sie die Magd. Mit einem Kloß im Hals wartete sie, bis sich die Kutsche
schwerfällig in Gang setzte. Die eisenbeschlagenen Räder dröhnten, als sie das
Tor mit zitternden Händen öffnete und das Gespann die Diele durch das hintere
Tor verließ.
Hinter ihr schwoll
der Lärm an. »Hexe, zeige dich!«, hörte sie Cothmann wütend rufen.
Weitere Kostenlose Bücher