Der Henker von Lemgo
zitterte. Das Herz wollte
noch nicht begreifen, was das Ohr gehört hatte. Es wehrte sich. Hilflos gab
Hermann Margaretha die Schuld: »Was redest du da, Schwägerin, und zerfließt in
Selbstmitleid, anstatt mich zu Ilsabein zu führen, die vielleicht in der
Kutsche verblutet, während du schwätzest?«
Seine Worte
bewirkten, dass Margaretha ihr tränennasses Gesicht hob und wie aus einem bösen
Traum erwachend rief: »O Gott, die Ilsabein, ja, Chirurgus, rasch, wir
müssen ihr helfen!« Doch als sie nach dem Instrumentenkoffer unter dem Tisch
griff und Hermann an der Hand fasste, um ihn nach draußen zu ziehen, entbrannte
plötzlich zwischen dem Vater und einem Vetter des Bürgermeisters ein Streit.
Der Vetter Cothmanns, ebenfalls Richter, trat aus dem Kreis der Umstehenden
hervor auf Cordt zu und legte sich für den Verwandten im Rathaus ins Zeug. Der
Deche hörte ihm mit unbeweglicher Miene zu, dann schnellte er plötzlich mit
einem wütenden Aufschrei nach vorn. Erschrocken versuchte der schmächtige
Richter auszuweichen, doch Cordt packte ihn an seinen Kleidern, hob ihn aus den
Schuhen und prügelte ihn vor sich her durch die Tür ins Freie.
Vor dem Tor hörte
Margaretha den Vater wie einen verwundeten Ochsen brüllen: »Sollte meiner
Tochter Maria von Eurem Vetter auch nur ein Haar gekrümmt werden, bei Gott, der
Verruchte wird es bereuen! Zu lange schon walten die hohen Herrschaften gottlos
in ihrem Amte. So wahr ich Cordt Rampendahl bin, ich werde den Herren Cothmann,
Rullmann, Krieger, Müller, und wie sie alle heißen mögen, das Fürchten lehren!
Sie wollen Krieg? Den können sie gern haben! Was erdreistet sich der Sohn einer
Hexe eigentlich?«
Dann vernahmen die
im Haus Gebliebenen plötzlich Cordts markerschütternden Schrei: »Ilsabein …
mein Kind!«
»O Herr, hilf uns!«
Margaretha mit
Hermann im Rücken bekreuzigte sich ängstlich. Der Weg nach draußen zur Kutsche
war versperrt. Hastig drängelte sie sich durch die Männer und kam gerade
rechtzeitig, um Anton den Weg zu versperren, der den Richter mit seiner Klinge
attackierte.
»Nein, Anton!«,
schrie sie. »Der Hurensohn ist es nicht wert!« Sie umklammerte seinen Arm und
zog den Geliebten zum Vater, der jetzt klagend vor der Kutsche saß und Ilsabein
an seine Brust drückte, während ihr Hermann hastig das Mieder aufriss und die
Wunde unterhalb der Schulter freilegte.
»Sie hat Glück
gehabt«, stellte er fachmännisch fest. »Die Kugel ist knapp über dem Herzen
eingedrungen. Wenn wir sie sofort entfernen, wird sie bald wieder genesen
sein.« Das tiefe Loch über dem Brustansatz zeigte an den Rändern schwärzliche
Verfärbungen. Auf Ilsabeins Stirn perlten winzige Schweißtropfen, offenbar
fieberte sie bereits.
Anspannung lag auf
Hermanns Gesicht, als er die Wunde sorgfältig abtastete und mit den
Fingerspitzen die Kugel zu fassen versuchte. Vor Anstrengung lief ihm der
Schweiß die Schläfen hinab. Endlose Minuten vergingen, dann erhob er sich und
wischte seine blutigen Hände an den Rockschößen ab.
Um ihn herum
herrschte betretenes Schweigen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Unschlüssig
blickte er über die Köpfe hinweg, suchte nach etwas. Zuletzt blieben seine
Augen hilflos an Cordt hängen. »Die Kugel sitzt zu tief im Fleisch. Auf der
Straße kann ich ihr sie nicht entfernen, jedoch ist der Weg zurück zur
Barbierstube für sie zu beschwerlich. Ein zweites Mal würde sie den Transport
nicht überleben. Die Instrumente, die ich für den Schnitt benötige, liegen in
meinem Haus am Markt.«
Sein Blick wanderte
voller Hoffnung zu Anton, der seit Kurzem eine eigene Barbierstube betrieb. Doch
auch der Bruder, der jetzt neben ihm kniete und die Diagnose bestätigte, zuckte
unschlüssig mit den Schultern. »Der Weg zu mir ist noch beschwerlicher und
führt über die Neue Straße. Ich kenne keinen Chirurgus, der nahe genug weilt,
um ihr das Leben zu retten.«
»Aber ich!«
Margarethas Gesicht hellte sich auf. Sie hatte unter den Männern Ilsabeins
Retter entdeckt.
»Wen? Wer beherrscht
das Handwerk ebenso gut wie wir?«
»Meister David!«
»Der Henker?« Cordts
Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Auf Hermanns Geheiß hatte er sich die Ärmel
vom Hemd gerissen und Ilsabeins Mieder um die Wunde herum ausgestopft. Hell
schimmerte die Haut seiner nackten Arme unter dem ledernen Rock, der ihm lose
über die Schultern hing. »Ausgerechnet der Henker soll mir die eine Tochter
retten, wo er mir morgen die andere doch vielleicht schon
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