Der Henker von Lemgo
Ich sah, wie nahe er bei dir stand.«
»Nein, nein«, lenkte
Maria verlegen ab und tauschte rasch die Schürze mit ihr. »Kannst du auf den
Wagen aufpassen, solange ich fort bin? Ich nehme das Pferd, um schnell zurück
zu sein.«
Wie ein Bursche
schwang Maria sich aus dem Stand auf den Pferderücken und warf der Schwester
den Beutel mit den Talern zu. Ein paar Hühner gackerten aufgeschreckt, und ein
Krug polterte über das Pflaster, als sie mit wehenden Röcken auf dem Rücken des
Hengstes zwischen den Wagen und Marktbuden verschwand.
Maria warf dem
herbeieilenden Knecht die Zügel zu, während sie im gleichen Moment vom Pferd
absaß. Obwohl es noch nicht dunkelte, fiel ihr im Nachbarhaus die für die
frühen Abendstunden ungewöhnliche Stille auf. Sie kannte die Stockmeyers als
geschäftige Nachbarn, bei denen sich bis zum Einbruch der Nacht das gesamte
gesellige Leben auf der Diele abspielte. Bis auf ein paar grunzende Schweine,
die es sich unter einer Kutsche bequem gemacht hatten, und ein paar räudige
Hunde, die den Neuankömmling aus sicherer Entfernung mit langem Hals
argwöhnisch beschnüffelten, befand sie sich mit dem Knecht allein hier.
»Wo ist meine
Mutter?«, fragte sie den alten Mann, der sich gehorsam anschickte, das Pferd zu
versorgen.
»Oben, über den
Stuben, beim Speicher.«
»Bei den
Mägdekammern?«
»Eure Mutter ist bei
der Grete.«
Forschend schaute
sie dem Mann in die müden Augen. Auch wenn Heinrich so alt war, dass sie sich
beim Gedanken an ihn immer nur an das runzlige, wie Leder gegerbte Gesicht und
den zahnlosen Mund erinnerte und sich manchmal fragte, wie er wohl als junger
schmucker Bursche ausgesehen haben mochte, kannte sie ihn als einen
stadtbekannten Schwätzer. Seine untypische Einsilbigkeit wunderte sie.
»Ist etwas mit der
Grete?«, drängte sie.
Doch der Greis
beantwortete ihr die Frage nicht. »Das Pferd braucht Wasser«, murmelte er und
wollte sich dann rasch von dannen stehlen.
Maria stellte sich
ihm in den Weg. »Was ist mit dir, Heinrich? Sag mir wenigstens, wem die fremde
Karosse gehört.«
»Den Rullmanns.«
»Dem Gerber und
Kämmerer Rullmann? Seltsam.« Maria vergaß den Knecht und dachte stattdessen
über die Rullmanns nach. Sie wohnten nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft,
weil sie nicht der gleichen Zunft angehörten. Henrich Rullmanns Frau war Gretes
frühere Dienstherrin, ansonsten bestanden zwischen den wohlhabenden Rullmanns
und den Stockmeyers keine freundschaftlichen Verbindungen. Demnach musste etwas
Ungewöhnliches vorgefallen sein.
Heinrich hatte mit
dem Hengst an der Hand die Diele verlassen. Um über sein seltsames Verhalten
nachzudenken, blieb ihr keine Zeit mehr. Schnellen Schrittes lief Maria zu dem
zweigeschossigen Stubeneinbau am Seiteneingang des Fachwerkes, doch vor der
Treppe stockte sie. Ein furchtbarer Schrei, der aus dem oberen Stockwerk drang
und nichts Menschliches mehr an sich hatte, jagte ihr eine Gänsehaut über den
Rücken. Selbst die Schweine begannen aufgeschreckt zu quieken und rannten in
Panik unter der Kutsche hervor.
Als sie sich
überwand, die Treppe hinaufzusteigen, prallte sie mit einer Magd zusammen, die
einen Zuber mit blutigem Wasser nach unten trug. »Gut, dass Ihr kommt, Jungfer
Rampendahl. Ihr werdet bereits erwartet.«
»Wo geht es zum
Speicher?«
»Dort entlang.« Die
Magd wies mit einer Kopfbewegung rechts die Treppe hinauf.
Da die Häuser
einander ähnelten, wusste Maria, dass die Kammern der Mägde neben dem Speicher
lagen. Keuchend erreichte sie das Dachgeschoss. Es roch nach muffigem Getreide,
und Mäuse tummelten sich auf den Holzdielen zu ihren Füßen. Eine der Türen der
Mägdekammern stand weit offen. Aus ihr drang lautes Stimmengewirr. Deutlich war
ihre Mutter herauszuhören. »Sie ist eine gottlose Kindesmörderin und gehört dem
Richter übergeben.« Noch nie hatte Maria derartige Worte aus ihrem Mund vernommen.
Nichts Gutes ahnend, trat sie über die Schwelle.
Die Mägdekammer war
nur wenige Fuß im Quadrat groß und sehr niedrig. Maria bückte sich instinktiv,
um sich nicht den Kopf am Balken zu stoßen. Als sie aufschaute, bot sich ihren
Augen ein seltsames Bild. Auf dem Bett als einzigem Möbelstück lehnte sich die
Magd Grete in halb sitzender, halb liegender Stellung an die Bettstatt. Mit
beiden Händen hielt sie sich ein Tuch zwischen die gespreizten Beine. Es war
genauso blutgetränkt wie die Innenseiten ihrer Oberschenkel und der graue
Lappen unter ihr. Ihr blasses Gesicht
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