Der Henker von Lemgo
Rechtschaffene Prediger dürfen weder blinde
Wächter sein, die nichts wissen, noch stumme Hunde, die nicht bellen. Sie
dürfen sich nicht scheuen, ihre Stimme zu erheben wie eine Posaune und dem
Volke seine Übertretung zu verkünden. Wie alle hier Anwesenden gehört haben,
sind mir Zweifel bei Pastor Müllers Ehefrau gekommen. Ihr Geständnis, ihr seien
auf dem Hexentanz die Augen verblendet gewesen, machte mich stutzig. Wie, meine
Herren, kann es dann sein, dass sie andere Hexen erkannt hat? Ebenso muss ich
Euch mitteilen, dass die Müßmannsche am Morgen ihrer Hinrichtung nach dem
Abendmahl ihre Besagung auf Hermann Meyers Frau widerrief und mir als ihrem
geistlichen Beistand auf dem Wege zur Hinrichtung ihre völlige Unschuld
beteuerte. Die Böndelsche, Eure Frau Mutter, Arnold Spruthe, hat bei ihrer
letzten Befragung behauptet, dass ich vor zwölf Jahren mit ihr in ihrem Hause
Ehebruch begangen haben soll. Magister Kempers Ehefrau ist im Kindbett
verstorben. Die Küstersche hat erzählt, ich habe ihr das Kraut dazu gegeben,
damit Magister Kemper die Schwester meiner Ehefrau heiraten kann. Doch will ich
nicht über mein eigenes Unglück lamentieren, das letztlich auch mich als
Hexenmeister denunziert. Ich will Euch, meine Herren, damit nur sagen, dass wir
die Dinge noch vorsichtiger angehen müssen. In Lemgo besitzen sämtliche Wände
Augen und Ohren, selbst die dicksten Gefängnismauern. Gerüchte haben Beine
bekommen, laufen durch die Straßen und Gassen, Klatsch, Tratsch und
Verleumdungen blühen wie nie zuvor.«
»Aber deshalb können
wir dem Hohen Rat nicht den Vorwurf des unordentlichen Prozessierens machen.
Alle Lemgoer Verfahren sind formaljuristisch korrekt und bestens abgesichert.
Das macht sie für uns so unangreifbar«, unterbrach ihn Spruthe.
»Dem widerspricht
allerdings, dass meine Mutter, die Witwe Böndel, auf Pastor Koch drei Mal
gepeinigt wurde, was in meinen Augen nicht rechtens ist!« Zu aller Erstaunen
schlug der Rechtsgelehrte mit der Faust auf die Tischplatte, sodass der Wein im
Krug überschwappte.
Andreas Koch nahm den
Moment zum Anlass und ergriff erneut das Wort. »Die Herren von Lemgo sind mir
wegen meiner Predigten wider dem Saufen und Ehebrechen sowie anderer Untugenden
nicht wohlgesinnt. Trotzdem bin ich mir keiner Schuld bewusst. Stets habe ich
die Pflichten meines geistlichen Amtes erfüllt. Im Moment sehe ich keine Gefahr
für mich und denke, dass wir uns eine Kampfansage leisten können.«
Aus seinen Worten
hatten Wut und Zuversicht gesprochen. Fasziniert von seiner Verwandlung vom
sanftmütigen Pfarrer zum unerschrockenen Kämpfer, fühlte Maria mit ihm und
bewunderte seinen Mut.
»Dann schreiten wir
also zur Tat.« Rottmann schob, während er sich erhob, mit dem Ellbogen das
Papier zur Seite und entrollte vor ihren Augen ein Pergament. Glatt gestrichen
bedeckte es die ganze Tischfläche. Nun erhoben sich auch die anderen Herren von
ihren Plätzen und beugten die Köpfe tief über das mit großen schwarzen
Buchstaben beschriftete Pergament. Damit Maria auch etwas sah, gestattete ihr
Hochwürden, seinen Platz einzunehmen.
Als sie versuchte,
etwas von der Schmähschrift zu lesen, beugte sich Andreas von hinten über ihre
Schulter. Sein warmer Atem im Nacken kitzelte auf ihrer Haut, gleichfalls
spürte sie seine Hände an ihrer Hüfte. Sie zitterten leicht. Es war seltsam,
den männlichen Körper zu fühlen, der für sie nie mehr als den Abgesandten
Gottes verkörpert hatte.
Einen winzigen
Augenblick glaubte sie, in Andreas’ Augen ein begehrliches Flackern zu sehen.
Die Vertraulichkeit befremdete und erregte sie, doch es blieb keine Zeit, um
über die eigenartigen Empfindungen nachzudenken. Sie ließ es geschehen, dass
Andreas ihre Taille behutsam wie einen Schatz mit seinen Fingern umschloss, und
blickte verlegen in die Runde. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, dass der
Pastor ihr so vertraut über die Schulter schaute.
»Das Pasquill ist
eine gemeinsame Idee von mir, den Herren Diedrich Kleinsorge und Kantor
Grabbe«, wurde sie von Rottmann abgelenkt. »Die Daten zu den darin genannten
Personen sowie einige weitere wichtige Notizen hat Hochwürden Andreas Koch
freundlicherweise beigesteuert. Die Brüder Kleinsorge haben den Text unter
Aufsicht unseres Rechtsgelehrten Arnold Spruthe verfasst. Vorerst werden wir
das Pasquill dem hochwohlgeborenen Grafen Hermann Adolph zu Detmold zukommen
lassen, auch wenn die Schmähschrift sich vorrangig gegen die
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