Der Herr der Ringe
nachdem sie von Henneth Annûn sieben oder mehr Wegstunden gelaufen waren. Frodo legte sich hin und schlief die ganze Nacht durch in dem tiefen Laub unter einem alten Baum. Sam neben ihm war unruhiger: Er wachte viele Male auf, aber niemals war etwas von Gollum zu sehen, der sich davongemacht hatte, als die anderen sich zur Ruhe legten. Ob er selbst in einem nahegelegenen Loch geschlafen hatte oder ruhelos nach Beute stöbernd durch die Nacht gewandert war, sagte er nicht; aber mit dem ersten Tagesschimmer kam er zurück und weckte seine Gefährten.
»Müssen aufstehen, ja, müssen sie«, sagte er. »Lange Wege noch zu gehen, nach Süden und Osten. Hobbits müssen sich eilen!«
Der Tag verging ungefähr wie der vorige, nur dass die Stille noch tiefer erschien; die Luft war drückend, und es wurde stickig unter den Bäumen. Es war, als ob sich ein Gewitter zusammenbraute. Gollum blieb oft stehen, schnupperte in der Luft, murmelte dann vor sich hin und drängte sie zu größerer Eile.
Während des dritten Abschnitts ihres Tagesmarsches, als der Nachmittag seinem Ende zuging, lockerte sich der Wald auf, und die Bäume waren größer und wuchsen vereinzelter. Große Stechpalmen von gewaltigem Umfang standen dunkel und feierlich an ausgedehnten Lichtungen, hier und da auch altersgraue Eschen und riesige Eichen, die gerade ihre braun-grünen Knospen ausstreckten. Ringsum lagen freie grüne Grasflächen, gesprenkelt mit Schöllkraut und weißen und blauen Anemonen, die sich jetzt zum Schlafen eingerollt hatten; und es gab ganze Felder mit Blättern von Waldhyazinthen: ihre geschmeidigen Glockenstengel stießen eben durch die weiche Erde. Kein Lebewesen, Tier oder Vogel, war zu sehen, aber auf diesen offenen Stellen bekam Gollum Angst, und sie gingen jetzt vorsichtig und huschten von einem langen Schatten zum nächsten.
Das Licht verblasste, als sie zum Ende des Waldes kamen. Dort setzten sie sich unter eine alte knorrige Eiche, die ihre wie Schlangen geringelten Wurzeln eine steile, abbröckelnde Böschung hinabsandte. Ein tiefes, düsteres Tal lag vor ihnen. Auf den jenseitigen Hängen war der Wald wieder dichter, blau und grau unter dem trüben Abend, und erstreckte sich weiter nach Süden. Zu ihrer Rechten erglühte das Gebirge von Gondor fern im Westen unter einem feuergefleckten Himmel. Zu ihrer Linken lag Dunkelheit: die hochragenden Wälle von Mordor. Aus dieser Dunkelheit kam das langgestreckte Tal und fiel in einer immer breiter werdenden Senke steil zum Anduin ab. Auf der Talsohle floss ein hurtiger Bach: Frodo hörte seine steinerne Stimme durch die Stille heraufdringen; und neben ihm schlängelte sich auf dieser Seite des Tals wie ein blasses Band eine Straße hinunter in kühle graue Nebel, die kein Strahl der untergehenden Sonne erreichte. Dort schien es Frodo, als erkenne er, gleichsam auf einem schattigen Meer schwimmend, die hohen düsteren Spitzen und gezackten Zinnen alter Türme, verloren und dunkel.
Er wandte sich an Gollum. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte er.
»Ja, Herr. Gefährliche Orte. Dies ist die Straße vom Turm des Mondes, die hinunterführt zu der zerstörten Stadt an den Ufern des Stroms. Die zerstörte Stadt, ja, sehr hässlicher Ort, voller Feinde. Wir hätten den Rat der Menschen nicht befolgen sollen. Die Hobbits sind weit vom Wege abgekommen. Müssen jetzt nach Osten gehen, dort hinauf.« Er deutete mit seinem knochigen Arm auf das dunkelnde Gebirge. »Und wir können diese Straße nicht benutzen. O nein! Grausame Leute kommen hier entlang, herunter von dem Turm.«
Frodo blickte hinab auf die Straße. Jetzt jedenfalls ging niemand dort. Sie erschien einsam und verlassen, als führe sie zu unbewohnten Trümmern im Nebel. Doch lag eine Feindseligkeit in der Luft, als ob tatsächlich Wesen diese Straße hinauf- und hinuntergehen könnten, die kein Auge zu sehen vermochte. Frodo erschauerte, als er wieder auf die fernen Zinnen blickte, die jetzt in der Nacht verschwanden, und das Geräusch des Wassers schien kalt und grausam: die Stimme des Morgulduin, des verpesteten Bachs, der vom Geistertal herabfloss.
»Was sollen wir tun?«, fragte er. »Wir sind lange und weit gelaufen. Sollen wir uns einen Platz im Wald suchen, wo wir uns verstecken und hinlegen können?«
»Nicht gut, sich im Dunkeln verstecken«, sagte Gollum. »Am Tage müssen sich die Hobbits jetzt verstecken, ja, am Tage.«
»Ach, komm«, sagte Sam. »Wir müssen uns ein bisschen ausruhen, selbst wenn wir mitten in
Weitere Kostenlose Bücher