Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
hochgewachsene Gestalt in extravaganten Gewändern ehrerbietig vom Kanzler begrüßt worden war. Seitdem hatte niemand aus der Gegend den Mut gefunden, dort vorzusprechen. Deshalb schien es mir angebracht, den Zauberer endlich in der Unterstadt willkommen zu heißen.
Die Kleine an meiner Seite, stolzierte ich mit all der Arroganz, die ich aufzubringen vermochte, auf den Turm zu.
Etwa drei Meter über dem Boden hockte eine monströse Statue auf einem schmalen Vorsprung, der aus dem Gebäude herausragte und die perfekte Glätte der Fassade beeinträchtigte. Darunter befand sich der Umriss einer Tür.
»Aufmachen! Aufmachen!«, schrie ich, an die Tür hämmernd.
Der Gargoyle bewegte sich, was uns keinen geringen Schrecken versetzte. Celia kreischte auf, ich biss mir auf die Lippe, um einen Schrei zu unterdrücken. Das Wesen über der Tür runzelte mit einer Natürlichkeit, die unheimlich wirkte, die Stirn. Seine Stimme klang zwar nicht drohend, war aber auch nicht die eines Menschen.
»Wer stört da die abendliche Ruhe? Der Meister schläft, meine jungen Freunde.«
Ich hatte meine unehrlich erworbenen Ersparnisse nicht hergegeben, um mich jetzt durch diese milde Vorhaltung abschrecken zu lassen, und ich sah auch keinen Grund, diesem Kunstgebilde mehr Respekt zu erweisen, als ich es gegenüber seinem Äquivalent aus Fleisch und Blut getan hätte. »Dann musst du ihn eben wecken.«
»Ich bedaure, mein Junge, aber auf Verlangen von zwei Schmutzfinken werde ich den Meister nicht aus dem Schlaf reißen. Kommt morgen wieder. Vielleicht empfängt er euch dann.«
Ein Blitz erhellte die Umgebung, sodass sich der Turm auf gespenstische Weise gegen das umliegende Ödland abhob.
»Möchte Blaureiher ungestört schlafen, um am Morgen die Leichen zweier Kinder auf seiner Schwelle vorzufinden?«
Die steinernen Augenbrauen zogen sich zusammen, die seltsame Kreatur wurde unwirsch.
»Sprecht nicht so über den Meister. Meine Geduld ist keineswegs unbegrenzt.«
Die Dinge waren bereits zu weit fortgeschritten, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, und schon damals begriff ich, dass ein Vorstoß oft die einzige Alternative zum Rückzug ist. »Sind dem Ersten Zauberer die Menschen seiner Stadt etwa gleich?«, schrie ich so laut, dass sich meine Stimme überschlug. »Möchte er in seiner Burg ruhen, während zwei Kinder der Unterstadt in diesem Unwetter umkommen? Hol ihn her! Hol ihn her, sage ich!«
Das Gesicht des Gargoyles leuchtete im Mondlicht auf, und mir wurde bewusst, mit welcher Gefahr ich spielte. Bisher hatte nichts darauf hingedeutet, dass sich das Wesen von seinem Sitz über der Tür fortzubewegen vermochte, aber ich konnte natürlich nicht wissen, was für Kräfte ihm zu Gebote standen, um den Turm zu verteidigen. »Deine Beschimpfungen ermüden mich. Geht, sonst …« Mitten im Satz brach er ab. Sein Gesicht erstarrte und verlor alle Anzeichen von Intelligenz.
Ebenso unerwartet stellten sie sich jedoch wieder ein. »Wartet hier. Der Meister kommt.« Mir war klar, dass das keine Garantie für unsere Sicherheit darstellte. Der Wind pfiff und heulte erbarmungslos durch die Nacht. Celia klammerte sich an meine Hand.
Die Tür öffnete sich. Vor uns stand ein großer, dünner Mann mit langem Bart und funkelnden Augen. Ich hatte Blaureiher erst einmal gesehen, aus der Ferne, und stellte fest, dass er inmitten einer Menschenmenge imposanter gewirkt hatte. Ich bemerkte, wie seine natürliche Freundlichkeit mit der Verdrossenheit darüber rang, dass er spät am Abend von zwei Vagabunden geweckt worden war. Irgendwie erstaunte es mich nicht, dass die Freundlichkeit die Oberhand gewann.
»Ich bin nicht daran gewöhnt, nach Mitternacht Besuch zu bekommen, am allerwenigsten von Menschen, die ich nicht kenne. Doch die Daevas gebieten uns, zu allen, die uns aufsuchen, freundlich zu sein, und daran werde ich mich halten. Was wollt ihr von mir?«
»Du bist Blaureiher?«, fragte ich.
»So ist es.«
»Derjenige, den man den Retter der Unterstadt nennt?«
»Wenn man mich so nennt …«
Ich schob Celia zu ihm. »Dann rette sie. Sie braucht Hilfe und weiß nicht, wo sie bleiben soll.«
Nachdem Blaureiher sie angesehen hatte, richtete er den Blick wieder auf mich. »Und du? Was brauchst du?«
»Nichts«, erwiderte ich barsch.
Er nickte und ließ sich ohne jede Überheblichkeit neben Celia aufs Knie nieder, ein außergewöhnliches Verhalten für einen der mächtigsten Männer des Reichs. »Hallo, mein Kind. Ich heiße
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