Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
erschüttert, amüsiert, alles zugleich – so einsam also war meine kleine Jeanne. Perfekt organisierte sie ihr Leben, aber es geschah alles ohne Wärme. Ab sechs Uhr abends bediente sie in einem Séparée neben der Stube die Stammkunden, wenn sie nicht Hausbesuche machte. Nie hatte ich etwas bemerkt, besser gesagt, gehört. Die Tapetentür war tabu, aber nicht nur für mich, sondern auch für die Messieurs oder Mesdames, die Jeannes Dienste bedurften: Sie alle gelangten durchs Treppenhaus an den Ort ihrer Wünsche.
Als Jeanne in jener Nacht wieder nach Hause kam, schloss sie nicht auf. Daran erkannte ich, wie sehr sie litt und wie groß ihre Angst war, mich zu verlieren.
Bis heute glaube ich nicht, dass sie in mich verliebt war. Sie sah in mir einfach den Menschen gegen ihre Einsamkeit. Eine Art vom Himmel gefallenes Geschenk, ein Geschöpf, mit dem sie Karten spielte, speiste, plauderte und das sie regelmäßig schrubbte. Mit ihrem Waschen befreite sie mich vom Schmutz meiner irdischen Existenz. Meine ständige Nacktheit – sie gestand mir nur einen gürtellosen, zu engen Morgenmantel zu – machte mich in ihrem Kopf zu einem Wesen säuglingshafter Unschuld. Bekleidet hingegen wäre ich ein Mann geworden und damit ein sexuelles Wesen. Trotzdem frage ich mich, ob sie wirklich vollständig vergaß, dass ich Mann war. Schließlich hatte sie mich in den ersten Tagen rasiert, und in den letzten gab es genug Situationen, in denen ihr die Natur vor Augen führte, was bei einem männlichen Säugling wirklich noch unschuldig ist.
Am späten Vormittag brachte sie mir Frühstück, als sei nichts geschehen. Sie liebte kräftige Kost wie Spiegeleier auf Speck oder Aal mit Rührei und bevorzugte einen Kaffee, der auf seine Art stark war wie unverdünnter Rum. Ich durfte im Bett frühstücken, aber zu Jeannes Enttäuschung hielt sich mein Appetit sehr in Grenzen. Woher auch sollte ich ihn nehmen, ich, der ich mich darauf freute, endlich einen ausgiebigen Spaziergang zu machen – bei schönem frühlingshaftem Sonnenwetter?
Mir blieb keine andere Wahl.
»Jeanne?«
»Ich weiß, der Schinken ist wieder zu salzig. Den Kaffee aber habe ich heute, wie die Orientalen es mögen, gemörsert und mit Kardamon gewürzt. Unvergleichlich, finden Sie nicht?«
Ich nickte und gönnte ihr noch eine letzte Galgenfrist. Dann griff ich ihre Hand, lächelte und sagte schlicht: »Jeanne, ich bin ein Mann.«
Sie zuckte zusammen und schaute mich zu gleichen Teilen enttäuscht und vorwurfsvoll an. Die falsche Interpretation dieses Satzes, die sich ihr zwangsläufig aufdrängen musste, hatte ich einkalkuliert - aber wirklich nur deswegen, weil ich diese Verletzung für nötig hielt, damit sie mir länger in die Augen schaute. Es tat weh, diesem Blick standzuhalten! Mit einem kurzen Satz hatte ich alle Unschuld zerstört und Jeannes reine Empfindung geschändet. Das Lächeln, in das sie sich zu retten versuchte, mißlang völlig, doch so entsetzlich demütigend es für sie auch sein musste, ihre Angst vor Einsamkeit war noch größer.
Es klingt unglaubwürdig, trotzdem ist es wahr, was geschah: Während Jeannes freie Hand unter die Decke schlüpfte, um sich des vermeintlich schuldigen Objekts anzunehmen, trieb es mir vor Scham und Traurigkeit Tränen in die Augen. Deren Schillern jedoch beschleunigte, wie mir schien, den Rapport. Ich brauchte nur wenig reden, um Jeanne soweit zu hypnotisieren, dass sie bei mir zu Hause für mich einen Koffer packte und ihn hierher ans Bett brachte.
Als sie zurück war, ließ ich ihn unter dem Bett verschwinden. Danach war alles wie vorher. Selbstredend hatte ich alle Kraft darauf verwandt, Jeannes Erinnerung an das traurige „Vorspiel“ so lange wie möglich zu blockieren. Nachdem ich sie aus der Trance geholt hatte, durfte sie mich nun ein letztes Mal schrubben. Ich ließ es wie sonst auch über mich ergehen, redete mir sogar ein, es genießen zu müssen. Kaum lag ich wieder unter der Bettdecke, fragte ich, ob sie heute abend Kunden empfangen würde.
»Ja, einen. Aber erst ab halb zwölf.«
»Fein. Dann könnten wir doch das gute Wetter ausnutzen, etwas flanieren und dann eine Kleinigkeit essen gehen.«
Sie lachte mich aus, nannte mich einen Schelm und Möchtegern-Flaneur und riss übermütig die Bettdecke zur Seite. „Ja, gehen wir!“ rief sie ein ums andere Mal voller Spott. »Am besten gleich ins Rocher de Cancale, wie?«
»Eine großartige Idee, Jeanne! Sie verstehen sich dort nämlich auf Fasan.
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