Der indigoblaue Schleier
Haus.
»Geh nicht weg, bitte. Es ist ein Geschenk.«
Anuprabha hielt inne. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, Makarand zu sagen, er solle sie nicht länger mit seinen Geschenken behelligen. Anderseits waren es meist sehr hübsche Dinge, die er ihr mitbrachte. Außerdem war es unhöflich, Geschenke ohne einen anderen Grund als den, dass der Junge ihr lästig war, abzulehnen. Und solange es sich nur um Tand und nichts Kostbares handelte, ging sie ja auch keinerlei Verpflichtung ein. Langsam drehte sie sich wieder herum. Sie warf Makarand einen unergründlichen Blick zu, bei dem der Junge wacklige Knie bekam.
»Hier, Anu.« Unbeholfen streckte er dem Mädchen das Geschenk hin. Er, der sonst so behende war, versteifte sich in ihrer Gegenwart immer so sehr, dass all seine Bewegungen hölzern wirkten.
»Danke, Makarand.« Mit spöttisch nach oben gezogenen Brauen nahm Anuprabha den in einen nicht mehr ganz sauberen Lappen gewickelten Gegenstand in Augenschein. Was hatte der Kerl sich diesmal wieder einfallen lassen? Sie hatte von ihm schon Kämme, Armreifen, Stoffe, Glasperlen und natürlich jede Menge Süßigkeiten bekommen. Nichts davon hatte er je verpackt. War es diesmal etwas Wertvolleres? Sie versuchte, sich ihre Spannung nicht anmerken zu lassen, als sie das Geschenk auswickelte.
»Oh! Aber Makarand …«, sie verfiel in einen verschwörerischen Flüsterton, »… hast du das etwa gestohlen?«
Makarand hatte all ihre Bewegungen und Blicke beobachtet, jedem Atemzug gelauscht – und das Zittern ihrer Hände bemerkt. Ha! Diesmal war es ihm gelungen, sie zu überraschen. Er registrierte die Mischung aus Angst und prickelnder Nervosität, die Anuprabha ausstrahlte. Wenn er »ja« sagte und einen Diebstahl gestand, den er gar nicht begangen hatte, würde es ihr wahrscheinlich schmeicheln. Er würde sich damit als verwegener Draufgänger zu erkennen geben, und der Reiz des Verbotenen, der dem Kästchen damit anhaftete, würde dessen Wert in Anuprabhas Augen vermutlich steigern.
»Nein«, antwortete er, »natürlich nicht. Ich habe es gekauft.«
Er sah, wie Anuprabhas Schultern herabfielen. Bestimmt dachte sie nun, das Kästchen habe keinen großen Wert, wenn einer wie er es kaufen konnte.
»Es ist sehr hübsch«, sagte sie. »Danke.«
»Sieh rein.«
Das Mädchen öffnete den Deckel und schrak augenblicklich zurück. »Igitt, was ist das?«
»Genau das, wonach es aussieht.« Makarands Gesicht nahm einen beleidigten Ausdruck an. »Du kannst es wegwerfen. Also, die Haare, nicht das Kästchen. Das ist nämlich wirklich etwas wert, weißt du.«
Anuprabha schämte sich für ihre überzogene Reaktion. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, in dem Kästchen wären Spinnweben oder die Fäden eines Kokons. Als Haarsträhne war das schwarze Gewirr, das im Innern verborgen war, nicht zu erkennen gewesen. Warum konnte Makarand auch nicht ein einziges Mal etwas richtig machen? Er konnte doch nicht einfach loses Haar irgendwo hineinfüllen. Er hätte die Strähne an einem Ende zusammenbinden müssen, damit genau das nicht geschah, was geschehen war. Irgendwie tat er ihr leid, ihr junger Verehrer, was sie ihm gegenüber keineswegs zeigen durfte. Das hätte für ihn alles nur noch schlimmer gemacht.
»Du bist ein Trottel, Makarand«, sagte sie von oben herab. »Aber ich gebe zu: Das Kästchen ist ganz nett.« Damit drehte sie sich um und ging ins Haus.
Makarand blieb wie angewurzelt auf dem Hof unterhalb der Verandabrüstung stehen und grinste. Das war das Freundlichste, was er seit langem von Anuprabha zu hören bekommen hatte.
Einige Tage später beobachtete Amba, wie ihr Hausmädchen dem kleinen Vikram etwas zeigte. Obwohl der Junge erst acht Jahre alt war, vergötterte er Anuprabha – wie alle männlichen Wesen es taten. Er schmiegte sich an sie und legte seinen Kopf an ihre Brust. Amba hatte das Gefühl, dass das Kind nicht halb so unschuldig war, wie es sich gab. Vikram hatte ganz gezielt nach der Berührung gesucht. Auf den Kleinen würde sie noch ein Auge haben müssen, wenn er heranwuchs. Er war ein ausgesprochen schöner Junge, und er würde ein sehr ansehnlicher junger Mann werden. Man musste darauf achten, dass er sich bei den Frauen nicht allzu viel herausnahm, beziehungsweise darauf, dass die Frauen in ihrem Haushalt ihm nicht alles ungestraft durchgehen ließen. Am Ende würde Vikram noch glauben, er könne einfach so nach jeder weiblichen Brust greifen, die sein Interesse weckte.
Jetzt allerdings
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