Der Junge, der Träume schenkte
Traum.«
Wortlos blickte Ruth nach vorn aus dem Fenster. Nun war es nicht mehr weit bis zur Grenze. Die amerikanischen Polizisten ließen sie, ohne sie zu kontrollieren, passieren. Die Mexikaner taten es ihnen gleich. Als Ruth sich umwandte, sah sie, wie die fünf Flüchtlinge aus dem Streifenwagen aussteigen mussten und der mexikanischen Polizei übergeben wurden. Die Frau mit der Stirnwunde war kaum auf mexikanischem Boden, als sie sich umwandte und einen Blick zurück auf Amerika warf.
Am Abend, nach ihrer Rückkehr in San Diego, entwickelte Ruth Barrys Aufnahmen von der Hochzeit in Tijuana und ihre eigenen Fotos von der Grenze.
»Wenigstens haben sie es versucht«, sagte hinter ihr Barry, während er die Bilder betrachtete.
Ohne so recht zu wissen, warum, nahm Ruth von da an an jedem freien Tag den Überlandbus nach Tijuana, stieg an der Grenze aus und fotografierte dort stundenlang die Menschen, die die Grenze in die eine oder andere Richtung überquerten. Dann spazierte sie den Grenzzaun entlang und machte Bilder durch den Maschendraht. Nach einer Weile kannten die Grenzpolizisten sie bereits und stellten sich mit der Pistole in der Hand in Pose. Und Ruth fotografierte sie. Unterdessen suchte sie im Hintergrund nach den dunklen, stolzen Gesichtern der Mexikaner mit ihrem trägen, tiefgründigen Blick.
Abends entwickelte sie die Fotos und betrachtete sie wieder und wieder. Und je länger sie sie ansah, desto stärker regte sich etwas in ihr. Als lösten sich Knoten. Und endlich erlangte sie ein gewisses Maß an Gelassenheit. Doch dieser innere Friede währte nicht lange, und die Angst kehrte mit Macht zurück, schlimmer und qualvoller noch als zuvor.
Zwei Wochen später bat sie Barry um Urlaub. Sie schob einen Grund vor und stieg in einen Überlandbus nach Los Angeles und dort in einen weiteren nach Newhall. Obwohl nicht Sonntag war, erlaubte man ihr im Newhall Spirit Resort for Women, Mrs. Bailey zu besuchen.
Ruth fand sie an ihrem Platz am Fenster vor, mit starrem Blick in ihre eigene Welt versunken. Still setzte Ruth sich neben sie und nahm ihre Hand. Mrs. Bailey zeigte keine Reaktion.
»Ich habe ständig Angst, wieder in die Falle zu geraten«, sagte Ruth nach einer Weile. »Was soll ich nur tun?«
Die alte Dame blickte weiter aus dem Fenster, ohne irgendetwas wahrzunehmen.
Schweigend blieb Ruth bei ihr sitzen. Nach fast einer Stunde ließ sie schließlich ihre Hand los, stand auf und wollte sich zum Gehen wenden.
»Ein kleiner Junge, der Sohn eines Kanarienvogelhändlers, beschloss eines Tages, alle Vögel seines Vaters freizulassen«, sagte da plötzlich Mrs. Bailey. »Er öffnete die Käfige, und die Kanarienvögel flogen allesamt davon und erfüllten die Luft mit ihrem Gezwitscher. Nur einer blieb. Es war der älteste unter ihnen, ein Weibchen namens Aquila, das schon vor dem Jungen auf der Welt gewesen war. Der Junge zuckte die Schultern. Früher oder später würde das Vogelweibchen schon davonfliegen, dachte er. Frei. Am Abend jedoch hockte der Vogel noch immer in seinem Käfig, weit weg von der Käfigtür. ›Tut mir leid, Aquila, aber es ist zu deinem Besten‹, sagte da der Junge und entfernte die Schüsselchen mit Wasser und Futter aus dem offenen Gefängnis, denn er war sicher, Hunger und Durst würden den Vogel bald in die Freiheit hinauszwingen. Am nächsten Tag fand er ihn immer noch dort, allerdings lag er starr auf dem rötlich gelben Rücken auf dem Käfigboden, die dürren Beinchen verkrampft in die Höhe gestreckt, die Augen trüb verschleiert und die Flügel, die ihm nie zum Fliegen gedient hatten, an die Brust gepresst, als hätte man sie ihm festgebunden.« Mrs. Bailey verstummte und seufzte tief.
Ruth stockte der Atem. Und dann verschleierten Tränen ihr den Blick. Sie setzte sich wieder neben die alte Dame und weinte still vor sich hin.
Da tastete Mrs. Bailey nach Ruths Hand und hielt sie fest umfangen.
Ruth sah sie nicht an. Schweigend saßen sie am Fenster, jede von ihnen versunken in die eigene Welt, in die eigenen Erinnerungen.
Als die Sonne langsam unterging, brachte ein Pfleger Mrs. Bailey das Abendessen aufs Zimmer und erklärte Ruth, sie müsse nun gehen.
Ruth löste ihre Hand sanft aus Mrs. Baileys Umklammerung und verließ das Newhall Spirit Resort for Women.
Zurück in Los Angeles, klingelte sie am Abend an Mr. Baileys Tür und übernachtete in ihrem alten Zimmer in der Agentur Wonderful Photos.
Wenn Arty glaubte, er könnte ihn übers Ohr hauen, irrte er
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