Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Telefon, das jemand auf den Esstisch gestellt hatte, und wartete, bis Milo neben ihm stand. Während er die Muschel abschraubte, hielt er den Atem an.
Er hatte Marković richtig eingeschätzt.
»Sehen Sie das?« Er deutete auf den Sender. »Das ist eine Wanze. Ihre Telefongespräche werden abgehört.«
Er setzte die Muschel wieder auf das Gewinde. Erzählte von den Wanzen im Telefon des Vaters und Richard Ehringers, ein alter Freund Ihres Bruder, Sie erinnern sich? Erzählte von Ivica Marković, der für dies alles wohl verantwortlich sei, die Wanzen, die Sprengung von Bachmeiers Scheune, die Suche nach Thomas, auch Marković einer von dessen früheren Bekannten.
Milo war blass geworden. Stumm stand er da, erstarrt wie die beiden Mädchen im Garten.
Eine versteinerte Familie.
Ein Klingeln ließ Adamek zusammenfahren. Er fixierte das Telefon auf dem Esstisch. Doch das Geräusch kam aus seiner Jackentasche.
Ein aufgeregter Onkel. »Du musst zu Bachmeier! Marković war hier. Er …«
»Bei dir? In Berlin?«
»Lass mich ausreden, verdammt!«
Adamek schwieg, während Ehringer erzählte. Dann steckte er das Handy weg und sah Milo an.
Er zwang sich zur Ruhe.
Er hatte verstanden, dass es um Liebe ging, jetzt musste er noch verstehen, was Milos Sorge war. Warum durfte niemand erfahren, dass Thomas lebte? Dass Lilly seine Tochter war?
Aber ihm blieb keine Zeit.
»Wir müssen wissen, wo Ihr Bruder ist, Milo. Bevor Marković ihn findet.«
»Thomas ist 1995 in Bosnien …«
»Nein«, unterbrach Adamek, »er lebt. Und er ist, warum auch immer, in Gefahr. Wie alle, die wissen, wo er ist. Ihr Vater, Sie und vor allem Markus Bachmeier.«
23
DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
ZAGREB/KROATIEN
Wieder war Yvonne Ahrens gewarnt worden.
Was du tust, ist gefährlich, hatte Goran Vori gesagt.
Sie saßen in einem lauten Lokal in der Unterstadt, mühten sich mit in Öl ertränkter Pizza ab, Irena, Vori, sie, während sie sich in einem Gemisch aus Kroatisch, Englisch und Deutsch unterhielten.
Goran Vori war in den neunziger Jahren einer der ersten kroatischen Journalisten gewesen, die über Kriegsverbrechen der eigenen Armee geschrieben hatten. Er wusste alles über Gospić im Velebit-Gebirge, wo eine Spezialeinheit des Innenministeriums im Oktober 1991 über fünfzig serbische Zivilisten ermordet hatte. Über die Operation »Medak«, bei der eine kroatische Brigade im September 1993 verwundete serbische Soldaten getötet und Zivilisten gefoltert und ermordet hatte.
Über »Sturm« – und über Zadolje.
Deshalb hatte Irena ihn mitgebracht.
Doch Vori war der Falsche, um Warnungen auszusprechen. Wollte man von der Sonne gesagt bekommen, dass man in der Dunkelheit stolpern könne? Ahrens sah, dass er die Lippen bewegte, und hörte nichts. Goran Vori war hinreißend .
Ende vierzig, mittelgroß, unrasiert, die halblangen Locken zum Zopf gebunden, versunkener Blick, die Lippen entschlossen. Die Stimme war tief und ruhig, um die Augen lagen Kränze aus Lachfältchen.
Vor allem seine Gelassenheit zog sie an. Ein Mann, den nichts erschüttern konnte. Der nicht zerbrechen würde.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Aber es ist mein Job. Ich will nicht weglaufen.«
»Nein, du willst verprügelt werden und sterben«, sagte Irena.
Ahrens seufzte freundlich.
»Hast du von Milan Levar gehört?«, fragte Vori.
Auch er versuchte es also mit den alten Geschichten. Sie nickte.
Levar hatte Ende der neunziger Jahre in Den Haag als Zeuge der Anklage zu Gospić ausgesagt. Unter anderem seinem Mut war es zu verdanken, dass die für die Massaker verantwortlichen kroatischen Kommandeure Norac und Orešković 2003 zu zwölf und fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden waren.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Levar nicht mehr gelebt. Er war im August 2000 in seiner Heimatstadt Gospić von einer Bombe getötet worden.
»Hat der Norac-Prozess nicht in Kroatien stattgefunden?«, fragte sie.
»In Rijeka«, bestätigte Vori. »Der zweite war in Zagreb. Da ist er wegen ›Medak‹ noch mal zu sieben Jahren verurteilt worden.«
Ahrens lächelte. »Na also.«
»Egal«, sagte Vori. »Glaub uns.«
Aus dem Lautsprecher über ihr drang eine kroatische Schnulze. Vor ihr saß dieser stoische, düstere Mann.
Sie räusperte sich. »Ich glaube euch.«
»Besser wäre es«, sagte Irena. Hunderttausende hätten während des Prozesses für Norac demonstriert. Ivo Sanader, damals Vorsitzender der HDZ und bis letztes Jahr kroatischer Premierminister, habe erklärt, er
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