Der Königsschlüssel - Roman
der Wirtin, die jedoch genauso mürrisch war wie am Abend zuvor. Sie brachen auf und ließen das Dorf rasch hinter sich. Auch auf dem Weg hinaus nickte ihnen keiner der Bewohner zu.
Die bedrückende Stimmung hatte sich ordentlich auf ihre Gemüter gelegt, und erst kurz vor Mittag, als sie das Dorf nicht mehr sehen konnten, fiel die Trostlosigkeit ein wenig von ihnen ab.
Sie passierten vereinzelte Bauernhöfe und entdeckten die Ruine einer Wehranlage auf einem Hügel zu ihrer Linken. Die Straße schwenkte mal hierhin, mal dorthin. Die Gegend schien früher einmal viel stärker besiedelt gewesen zu sein. Es wurde wärmer, sie krempelten die Ärmel hoch, und Cephei lief sogar eine ganze Weile barfuß.
Meist übernachteten sie im Freien oder in einer verlassenen Scheune, Gasthäuser wurden seltener, oder sie erreichten sie
am frühen Nachmittag und wollten noch ein gutes Stück Weg schaffen, bevor sie sich zur Ruhe begaben. Immer wieder erkundigten sie sich nach dem Vogel und vertrauten ansonsten an jeder Kreuzung dem kleinen Raumgeist, den sie mit der Leine um den Bauch auf den Boden setzten, ihn die Richtung bestimmen ließen und wieder in die Kiste packten, so sehr er auch mit seinen Ärmchen fuchtelte.
Fünf Tage liefen sie auf die Wolke zu, doch sie wollte sich nicht wegbewegen. Im Gegenteil, sie verharrte an der gleichen Stelle, und sie kamen ihr immer näher. Sie war riesig, und ihr Weg führte sie direkt auf ihre Mitte zu. Cephei sah, wie Urs sie immer wieder anstarrte und sich dann hinter dem linken Ohr kratzte. Als ihnen schließlich ein dünner, bärtiger Händler auf einem hölzernen Wagen begegnete, der von zwei Bewaffneten eskortiert wurde, fragte Urs ihn nicht nach dem Vogel, sondern nach der Wolke vor ihnen.
»Kommt ihr von dort hinten?«, wollte er wissen. »Von unter der Wolke?«
Der Händler hob abwehrend die Hände. »Von unter der Wolke? Was denkt ihr von mir! Nein! Sehe ich so verrückt aus?«
»Nein, nein, keinesfalls. Wir wissen nicht, was es mit ihr auf sich hat, deshalb frage ich.«
»Ihr habt noch nie von der Ruinenstadt Sanjorkh gehört?«
»Sanjorkh? Dort liegt Sanjorkh?« Urs fluchte.
Cephei erinnerte sich, den Namen schon einmal im Zusammenhang mit einer unheimlichen Sage gehört zu haben, aber mehr wusste er nicht.
»Sanjorkh, auch das noch.« Urs fluchte ein zweites Mal.
»Habt ihr Interesse an feinen Stoffen aus dem Osten, Gewürzen oder Tränken?«, wechselte der Händler hastig das Thema.
»Oder an frischem Öl für eure Laternen? Wenn ihr nach Sanjorkh wollt …«
»Von wollen kann keine Rede sein«, brummte Urs, doch er kaufte einen großen Vorrat Lampenöl und stopfte die Fläschchen in seinen Rucksack. »Vielleicht ist es ja doch nicht so dunkel«, sagte er noch, aber allzu viel Hoffnung lag nicht in seiner Stimme.
Grinsend verabschiedete sich der Händler, und Urs führte Vela und Cephei weiter auf die bedrohliche Wolke zu.
»Was ist Sanjorkh?«, fragten sie beinahe zeitgleich, als der Händler außer Hörweite war.
»Genaues weiß ich auch nicht, weiß wohl niemand«, antwortete Urs. »Angeblich handelt es sich um die Ruinen einer lange verlassenen Stadt. Sie war schon verlassen, als unser Königreich in den Kinderschuhen steckte, und sie muss um vieles größer gewesen sein als unsere Hauptstadt - wirklich viel größer. Es dauert Tage, um von einem Ende zum anderen zu laufen, und Wochen außen herum. Ständig schwebt eine schwarze Wolke über ihr, die die Sonne und Sterne verdeckt, so dass sie in stetiger Düsternis liegt.
Die Häuser sind längst verfallen, und unzählige Straßen zwischen ihnen verwirren all jene, die die Stadt betreten, und nicht wenige haben sich in ihr verirrt wie in einem Labyrinth. Doch das ist nicht die einzige Gefahr, die dort lauert. Es verstecken sich Gesetzlose darin, die wissen, dass selbst Männer des Königs die Ruinen von Sanjorkh meiden und lieber andernorts nach Schuldigen suchen, auch wenn sie dann niemanden oder die Falschen zu fassen bekommen. Das ist allemal besser, als nach Sanjorkh zu gehen.«
Vela und Cephei sahen ihn ungläubig von der Seite an.
»Du meinst, der König lässt manchmal die falschen Leute verhaften?«, fragte Cephei.
»Nicht der König selbst. Es geschieht nicht, weil der König es so entscheidet, sondern weil manche Männer einfach Angst haben.«
»Aber der König ist weise, weshalb lässt er das zu?« Vela war empört.
»Er mag weise sein, aber er ist weit weg. Und auch er hat in all den Jahren
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