Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
Entitäten davonzogen und der Geruch des verbrannten Krams und der implodierten Fernsehgeräte nicht länger an ihnen haftete und sich stattdessen im Raum ausbreitete. »Schnappt ihn. Aber nicht ... ihr wisst schon. Ihr müsst den kleinen Mistkerl heil abliefern. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«
    Marge suchte jeden Ort auf, der ihrer Vorstellung nach in irgendeiner Beziehung zu Leon oder Billy stehen mochte, und hängte fotokopierte Plakate auf. Eineinhalb Stunden am Laptop, zwei jpegs und ein einfaches Layout, dazu die Nummer des Mobiltelefons, das sie extra zu diesem Zweck erworben hatte und das allein dieser Jagd dienen sollte.
    Sie tackerte sie an Bäume, hängte sie an die Anschlagtafeln von Zeitungsläden, klebte sie an die Seitenwände von Briefkästen. Einen Tag oder zwei hätte sie wohl behauptet, dass sie mit der Situation so normal umging, wie sie oder irgendjemand es in Anbetracht der Umstände nur konnte. Sie hätte gesagt, dass sie zwar, ja, ihren Liebhaber auf irremachende Art und Weise verloren hatte und dann natürlich auch noch von diesen entsetzlichen Gestalten geängstigt worden war, was beides grauenhaft war, dass jedoch bisweilen eben auch grauenhafte Dinge geschahen.
    Marge hörte auf, sich dergleichen einzureden, als sie, nach einem und dann noch einem Tag, immer noch nicht zur Polizei gegangen war und ihre Begegnung gemeldet hatte. Weil - und von diesem Punkt an hatte sie Mühe, Worte zu finden. Weil etwas anders war in der Welt.
    Diese Polizisten. Sie waren so begierig darauf gewesen, Antworten aus ihr herauszuholen, waren von ihr als einer Art Probandin fasziniert gewesen, doch sie hatte bei keinem von ihnen auch nur ein Fitzelchen persönlicher Anteilnahme wahrgenommen. Sie hatten offensichtlich Dringliches zu erledigen. Aber Marge war, wie ihr bewusst wurde, auch ziemlich sicher, dass keiner dieser Polizisten es als seine Aufgabe empfunden hatte, für ihre Sicherheit zu sorgen.
    Was hatte all das zu bedeuten? Was zum Teufel, dachte sie, geht hier vor?
    Sie fühlte sich gefangen wie in einer Lage gedehnten Gewebes. Die Arbeit drang nur gefiltert zu ihr durch. Zu Hause funktionierte nichts so, wie es sollte. Das Wasser kam sprotzend und von Luftblasen durchsetzt aus den Hähnen. Der Wind schien entschlossen, schlimmer denn je an ihren Wänden und Fenstern zu zerren. Bei Nacht war der Fernsehempfang mies, und die Straßenlaterne vor ihrem Haus ging an und aus, lächerlich kaputt und unvollkommen.
    Marginalia verbrachte mehr als einen Abend damit, vom Sofa zum Fenster zum Sofa zum Fenster zu wandern und hinauszusehen, als könnte Leon - oder Billy, der nicht nur einmal in diesen, ja, was, Tagträumen, auftauchte - gleich dort draußen sein, wartend an einen Lampenpfahl gelehnt. Aber da waren nur Passanten, die Nachtbeleuchtung eines nahen Lebensmittelladens und die Laterne, an deren Pfahl niemand lehnte.
    Es geschah nach vielen Stunden des Aus-An, das durch ihre Vorhänge eine theatralische Wirkung erzeugte, dass Marge der Straßenlaterne eines Nachts in ihrer Verzweiflung ein wenig Aufmerksamkeit widmete. Begleitet von einem spürbaren Schock wurde ihr offenbar, dass das Wechselspiel der Beleuchtung nicht zufällig erfolgte.
    Sie erkannte ein Muster darin, das sich wiederholte. Einige Minuten saß sie still da, beobachtete, zählte und endlich und zögerlich, als räume sie durch ihr Handeln etwas ein, das sie nicht einräumen wollte, fing sie an, sich Notizen zu machen. Die Straßenlampe flammte auf, flammte aus. Funkelfunkel. Schnell, langsam, längerer Lichtschein. An aus an-an-an aus an aus an aus, dann ein leichtes, fisselndes Glimmen und ein weiteres, kürzeres Muster.
    Was sollte das schon sein? Lang-kurz in sorgfältig gewählten Kombinationen. Die Laterne spie ihr das Licht in Form eines Morsecodes entgegen.
    Die Übersetzung fand sie online. Die Laterne sagte LEON IST TOT LEON IST TOT LEON IST TOT.
    Marge ließ es sich wiederholt erzählen, viele Male. Sie dachte in all diesen langen Minuten gar nicht darüber nach, wie sie sich fühlte. »Leon ist tot«, flüsterte sie und bemühte sich, nicht an die Bedeutung der Worte zu denken, sich nur zu vergewissern, dass sie das Punkt-Strich-Geflimmer korrekt übersetzt hatte.
    Sie lehnte sich zurück. Natürlich empfand sie Bestürzung angesichts der Absurdität, des Wie der Botschaft; und die Worte selbst, ihr Inhalt, die Erklärung, die sie für Leons Verschwinden lieferten, sie konnte sie nicht nichthören, konnte sie nicht

Weitere Kostenlose Bücher