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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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fernhalten. Marge wurde bewusst, dass sie weinte, und sie weinte lange, beinahe still und unter Schock.
    Nachdem sie sich längst an den Rhythmus des Lichts gewöhnt hatte, erkannte sie eine letzte, abrupte Veränderung sofort. Sie griff nach dem Morsealphabet und weinte Tränen darauf. Diese letzten Worte der Straßenlaterne wurden nur zweimal wiederholt. BLEIB, las sie, WEG.
    Mit einem atemlosen Wiehern und Bewegungsabläufen, als kämpfe sie gegen einen zähflüssigen Widerstand, ging Marge zu ihrem Computer und stellte Nachforschungen an. Ihr kam nie in den Sinn, sich der Aufforderung jener letzten Worte zu fügen.

35
    Papier driftete über London.
    Es war Nacht. Schnipsel verbreiteten sich um One Canada Square, Canary Wharf. Eine Frau stand auf der Spitze der Dachpyramide, dem Scheitelpunkt dieses scheußlichen Phallus von einem Gebäude. Es wäre leichter für sie gewesen, sich Zugang zum BT Tower zu verschaffen, aber hier stand sie 47 Meter höher. Kunstertopographie war kompliziert.
    Die Zeit des BT Towers war vorbei. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte das Minarett mit seinen ringförmig angebrachten Schüsseln und Sendern London im Zaum gehalten. Monatelang hatte der Turm okkulte Energien festgekettet, als schlimme Mächte versucht hatten, sie zu zerstreuen. Die Energien von sechs von Londons mächtigsten Kunstereianwendern - kombiniert mit den Gedanken der Kameraden in Krakau, Mumbai und der eher zweifelhaften Gemeinde von Magogville - waren über die ganze Länge des Turms fokussiert und hinauskatapultiert worden, in einem engen Strahl, der für 77 Jahre die machtvollste UnPlazierte Bedrohung für die Stadt zerstreut und unschädlich gemacht hatte.
    Und hatte das Gebäude Dank erfahren? Nun ja, schon, aber nur von den wenigen, die wussten, was es geleistet hatte. Heute war der BT Tower nur noch eine veraltete Waffe.
    Der Canary Wharf war sterbend geboren worden, das war die Quelle seiner unerfreulichen Energien. In den bankrotten Neunzigern, als die oberen Etagen leerstanden, hatten sie in ihrer begierigen Trostlosigkeit einen machtvollen Platz zum Umschmieden der Wirklichkeit geboten. Als endlich die Bauunternehmen anrückten, stolperten sie verwundert über die Überreste von allerlei Siegeln, abgebrannten Kerzen und Blutflecken, die sich jeglicher Bleiche widersetzten und sogleich wieder zum Vorschein kamen, wenn die unfassbar abscheulichen Teppiche je angehoben wurden.
    Die Frau stand neben dem stets blinkenden Lichtauge auf der Spitze des Turms. Furchtlos schwankte sie im Wind und blinzelte gegen die Tränen an, die ihr die Kälte in die Augen trieb. Sie griff in ihre Tasche und nahm Papierflieger heraus.
    Sie warf sie über den Rand des Gebäudes. Die Flieger flogen in hohem Bogen, und ihre Falten aerodynamisierten sie durch die Dunkelheit, von unten angestrahlt von der Straßenbeleuchtung. Sie erwischten thermische Aufwinde. Geschäftige kleine Dinger. Wie die Motten stiegen sie zum Mond hinauf. Und bald gingen die Flieger oberhalb der Ebene der Busse auf die Jagd und tauchten ein in den Lampenschein.
    Sie flogen nach Laune - folgten den Ahnungen Londons. An Biegungen bogen sie ab, kreisten durch Kreisverkehre, beschrieben eine Bahn in Einbahnstraßen. Am Westway trudelte einer von ihnen beständig um die eigene Achse und flog über-unter-über der mächtigen, erhabenen Straße entlang, ein Verhalten, das nichts anderes bekunden konnte als Vergnügen.
    Viele gingen verloren. Ein fehlkalkulierter Sturzflug, und schon mochte einer der Flieger in einem Maschendrahtzaun hängen. Ein Angriff von einer verwirrten Londoner Eule, und das Papier fiel in Fetzen zu Boden. Schließlich aber flogen die Übrigen einer nach dem anderen über den Dächern dahin, machten sich eilends auf in die Randbezirke - nicht dorthin, woher sie gekommen waren, sondern zu ihrem Zuhause.
    Bis dahin war die Frau, die sie ausgesandt hatte, bereit für sie. Sie hatte die Stadt selbst durchquert, schneller und mit banaleren Mitteln, und nun wartete sie, um sie bald, einen nach dem anderen einzufangen, stundenlang. Jeden bearbeitete sie mit einer Klinge, so exakt, wie sie konnte, kratzte oder schnitt sie die Botschaft heraus. Sie sammelte einen Stapel Worte. Papierlose Schrift lag in fremdartigen Ketten aufgereiht neben ihr.
    Die Flieger, die es nicht nach Hause schafften, beschleunigten ihren Verfall in der Gosse, konnten ihn jedoch nicht sofort bewirken. Eine Weile blieben arkane Abfälle zurück.
    »Hallo Vardy.« Collingswood

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