Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
nicht existiert.
    Geister waren schwierig. Die Rückstände einer menschlichen Seele, irgendeiner menschlichen Seele, waren viel zu komplex, zu widersprüchlich, zu eigensinnig, zu traumatisiert von ihrem Tod, um irgendetwas zu tun, das irgendein anderer von ihnen wollte. In den seltenen und eher zufälligen Fällen, in denen der Tod nicht das Ende bedeutete, war unmöglich abzuschätzen, welche Aspekte, welche verleugneten Facetten der Persönlichkeit es in der postumen Identität mit welchen anderen würden aufnehmen müssen.
    Es stellte kein Paradoxon des Spuks dar - so erschien es nur den Lebenden - dass Geister oft keinerlei Ähnlichkeit mit den Lebenden aufwiesen, deren Rückstände sie waren: Da kann es schon mal passieren, dass das Kind, das Besuch bekommt von seinem sanftmütigen und heißgeliebten Onkel, der dem Krebs erlegen ist, entsetzt reagiert auf die grausame und nachtragende Stichelei, mit der sein Schatten aufwartet; dass der Wiedergänger eines seine Umwelt einschüchternden Mistkerls nichts anderes mehr tut als lächeln und unbeholfen zu versuchen, mittels ektoplasmischer Intervention die Katze zu füttern, die sein fleischliches Bein Tage zuvor noch getreten hatte. Selbst wenn Collingswood versucht hätte, den Geist des stursten, geachtetsten, kompromisslosesten Officers zu beschwören, der in den letzten dreißig Jahren zur Sondereinsatzgruppe gehört hatte, hätte sie ohne Weiteres auf einen schwermütigen Schöngeist oder einen einfältig grinsenden Fünfjährigen treffen können. Die lebendige Erfahrung der echten Toten blieb ihr verschlossen.
    Es gab eine andere Möglichkeit. Man konnte einfach ein paar polizeiliche Funktionen zusammenwerfen, die nur glaubten, sie wären Geister.
    Zweifellos war auch etwas Seelenmaterial von echten verstorbenen Polizisten in der Mischung enthalten. Eine Basis, ein Untergrund bestehend aus Polizeidenken. Der Trick, so hatte Collingswood gelernt, bestand darin, es allgemein zu halten. So abstrakt wie nur möglich. Sie konnte Schnipsel übernatürlicher Effekte aus Willensinhalten, Technik, einigen Überbleibseln der Erinnerung und vor allem Bildern zusammenballen, wobei die Bilder so deutlich wie möglich ausfallen sollten. Daher die billigen, halbwegs realistischen Krimis, die sie verbrannt hatte. Daher die Fernseher und die Videobänder, die Aufnahmen von Die Füchse und Die Profis, gewürzt mit etwas Dixon -Frömmelei und zusammengerührt zu einem Blütezeitunsinnstraum, der ihre spektralen Funktionen darauf drillte, was sie zu tun und wie sie zu sein hatten.
    Da war kein Platz für Nuancen. Collingswood machte sich keine Gedanken über die Feinheiten post-lawrencescher Polizeiarbeit, über Bewusstseinstraining oder Öffentlichkeitswirkung. Hier ging es um den städtischen Tagtraum. Um fetischisierte 70er-Jahre voller echter Männer. Und schon flog eine DVD von Life on Mars auf den Scheiterhaufen.
    Was Collingswood tat, war Folgendes: Sie belebte sture, wild entschlossene Klischees, die an sich selbst und an ihre eigene Existenz glaubten. Collingswood verfiel selbst in die groteske Sprachebene, die diese Behördenfunktionen nutzten, sie bemerkte, wie sie sich der kitschigen Äußerungen und des übertriebenen, gedehnten Londoner Akzents befleißigte.
    »Dann mal los, Jungchen«, sagte sie. »Mehr gibt's nich'. Nur Wati. Letzte bekannte Adresse: irgendeine verschissene Statue. Beruf: uns das Leben schwer machen.«
    Sie mussten nicht - konnten nicht wirklich - clever sein, die unechten Geister; aber sie hatten eine hässliche Hinterlist an sich und den gesammelten, der Fantasie von Drehbuchautoren im Zuge von Jahren entsprungenen Grips. Kleiner Scheißer, hörte Collingswood sie sagen. Seht euch all diesen Mist an, und schon wogten Schwaden der Asche der Fallnotizen auf. Schnappt den kleinen Lausbub, Überstunden, Sextäter, Schlampe, Chef, Sarge, schreiten gleich die Hauptstraße entlang. Sie gackerten die Worte, sie murmelten im Verschwörerton, verglichen nicht existente Notizen. Collingswood hörte, wie sie Namen nannten, die im Zuge des Falles aufgetaucht waren - Wati Billy Dane Adler Archie Teuthex - während sie die Daten aus den brennenden Akten auswendig lernten.
    Die Präsenz oder die Präsenzen - sie wechselten ständig zwischen Geschlossenheit und Pluralität - glitten hinaus aus der Spürbarkeit, hinaus aus dem Raum. Scheißverdammte Hölle, hörte Collingswood noch. Den wird die scheißverdammte Hölle holen.
    »Gut«, sagte sie, als die

Weitere Kostenlose Bücher